Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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stunde); der Husten ließ nach, setzte oft mehrere Tage ganz aus und 
die Caries am rechten Ellenbogen mit ihren mehrfachen Fistel 
gängen heilte gut zu; auch die bei der Ankunft vorherrschend 
trübe Gemüthsstimmung ging allmälig in's Gegentheil über. 
Heinrich wurde munter und guter Dinge. Gerade so lauteten 
auch successive immer heiterer und fröhlicher seine Briefe nach 
Hause, wohin Herr C. sich bereits vor mehreren Wochen zu 
rückbegeben hatte. Ich war daher überrascht, als ich Anfangs 
September ein Schreiben von Herrn C., folgenden Inhalts, 
erhielt: 
„Mt besonderer Befriedigung habe ich in Ihrem letzten Schrei 
ben gelesen, daß die Gymnastik auf Heinrichs Brustkasten schon einen 
meßbaren bessernden Einfluß gehabt hat; seine Brust ist der am 
meisten kranke Theil seines Körpers und die durch ihre Enge bewirkte 
mangelhafte Athmung ist der Hauptgrund seiner übrigens Leiden. Die 
20 Gran Calomel* **) ), die er, l 1 /^ Jahre alt, einmal ver 
schlucken mußte, haben ihm weniger geschadet, als die so 
genannte Heilung seiner Pleuritis durch Blutegel und 
Kantharidenpflaster, die ihm das Asthma als Zugabe für seine 
schönste Entwickelungszeit vom 8ten Jahre an mitgab. Wenn dock- 
endlich einmal die privilegirten und graduirten Aerzte Vernunft an 
nehmen wollten! Mein zweiter Junge ist auch ein Opfer dieser so 
oft mit Recht noch „Dunkelmänner" zu nennenden Herren, die ihre 
Angriffe schon auf ihn richteten, als er 7 Monate, vom Tage der Con 
ception an, alt war. Der Junge hat eine zu kleine Blase davon ge 
tragen, die natürlich in den beiden letzten Monaten der Schwanger 
schaft sich vorzugsweise entwickeln muß, weil sie bald ihre Wasserkünste 
zu zeigen hat. Der 16 jährige Junge ist kräftig, aber ein Knirps, der 
in's Bett pißt, wenn er zum Abendbrod über eine kleine Tasse Flüs 
sigkeit genießt und nicht regelmäßig Morgens um 4 Uhr geweckt wird. 
Und nun zwingt mich die Polizei, solchen Aerzten meinen jüngsten 
Knaben, einen bis jetzt, Gott sei Dank, ganz gesunden Bengel, in den 
Molochsrachen zu stecken, wenn er nur das ABC lernen soll. ^ Es 
ist um des Teufels zu werden! Die alten Perrücken der Medicinal- 
Verwaltung sehen es mit der größten Gemüthlichkeit an, wie das Volk 
durch verfälschte, vergiftete Nahrungsmittel, durch Pillen-Fabrikanten 
siech und elend gewacht wird, wie Tausende durch Arznei getödtet 
werden und aflectiren dann den' frommsten Eifer für die aufwachsende 
Generation, wenn es sich um ein Leiden handelt, was sie freilich in 
ihrer unüberwindlichen Voreingenommenheit für Arzneien nichst natur 
gemäß zu behandeln wissen, was aber jede vernünftige Hebamme leicht 
nach Anweisung eines rationellen Wasserarztes beseitigen könnte. 
Gott bessere es; es geht mir starke gegen die Haare, es so ruhig hin 
zunehmen ! 
Wenn Heinrichs Zustand es thunlich macht, dann möchte ich ihn 
gegen Ende des Monats wieder hier haben, da Anfangs October die 
Schulen wieder eröffnet werden. Ich glaube, daß es auch insofern für 
ihn gut sein wird, in der norddeutschen Tiefebene den Winter zuzu 
bringen, als diese im Allgemeinen weniger trocken und rauh ist, als 
das mitteldeutsche Hochland. Es versteht sich, daß er in der Wasser 
diät und bisherigen Körperpflege bleibt und diejenigen gymnastischen 
Uebungen beibehält, die seinen Thorax entwickeln und überhaupt seinen 
Stoffwechsel anregen. In Bezug auf das, was er nun im nächsten 
Winter hier treiben müßte, um nicht das bei Ihnen Gewonnene wie 
der zu verlieren, möchte ich mir Ihre nähere Belehrung ergebenst er 
bitten, die Sie. ihm vielleicht in Form eines heilgymnastischen Recepts 
und eines hydriatischen zngleich mit auf den Weg geben könnten " 
Darauf antwortete ich unterm 12. September ungefähr 
Folgendes: „daß ich seinem und Heinrichs Willen allerdings 
nachgeben müsse, obgleich ich ihn im Interesse meines Patien 
ten daran zu erinnern nicht unterlassen wolle, daß er mir 
denselben übergeben habe auf so lange Zeit, als ich ihn 
zu behalten für gut finde, und was mich nun anbe 
*) Anmerkung. Diese Ansicht des Herrn C., daß das von Hein 
rich verschluckte Calomel nicht soviel geschadet haben kann, theile 
ich durchaus; keinenfalls kann es die scrophulöse Dyskrasie und die 
Knochencaries hervorgerufen haben, die seinen frühen Tod herbei 
führten; denn sonst wäre die europäische Bevölkerung längst mehr wie 
deeimirt, soviel Calomel bekommt dieselbe heute noch zum Verschlucken! 
**) Anmerkung. Nämlich der Junge sollte jetzt geimpft wer 
den, sonst nähme ihn die Schule nicht auf. 
lange, so würde ich ihn unbedingt noch bis zum 
Herbste hier behalten, und keinenfalls jetzt schon 
fortgehen lassen! 
Unterm 21. September erfolgte dann wieder Rückant 
wort, dahin gehend, daß man Heinrich eben über den Winter 
in D. haben wolle, und deren Schluß wörtlich lautete: 
„Leben Sie recht wohl, mein hochgeehrter Freund; 
in 6 — 8 Wochen sende ich Ihnen einen Rapport über Heinrichs Zu 
stand und 185 7 denke ich mit ihm in München eine Kur zu 
vollenden, mit deren Anfang ich vollkommen zufrie 
den sein kann! Auf Wiedersehen bis dahin. Ihr ergebener Cr. 
Am 28. September reiste Heinrich ab. 
Und der Mensch denkt, — Gott lenkt! 
Nach kaum 6 Wochen erhielt ich von Herrn C. einen 
Brief, datirt D. den 11. November, welcher übrigens nicht 
der erste seit Heinrichs Abreise war; derselbe lautete, wie folgt: 
„Ihre in Ihrem letzten Schreiben vom 30. October ausgesprochene 
Befürchtung in Bezug auf Heinrichs Schulbesuch hat sich leider 
nur zu begründet erwiesen; ich habe ihn nach dreiwöchentlichen 
Studien zurückgenommen und zwar gegen seinen Willen. Am liebsten 
hätte ich ihn, nachdem ich ihn während 3 Wochen beobachtet, wieder 
nach München spedirt, der Junge wollte aber davon, weil er die Ge 
fährlichkeit seines Leidens nicht ahnt, Nichts wissen, um den wirklich 
vorzüglichen Unterricht in der hiesigen Realschule nicht zu entbehren. 
Reinen Wein durfte ich ihm nicht einschenken, und so kam ich auf 
den Gedanken, ob dem bei ihm präsumirten Kehlleiden (?) nicht durch 
eine kräftige Ableitung mittels des sogenannten Lebensweckers ent 
gegengetreten werden könne. So ging ich vor 10 Tagen mit ihm 
nach Bonn, wo ich vor der Scarificatiou (Schröpfung) noch den auch 
Ihnen bekannten Dr. Bö cker zu Rathe ziehen wollte. Bei diesem 
traf ich noch den Dr. Lehmann, der früher in Rolandseck die Was 
serheilanstalt leitete. Beide riethen mir, nachdem sie Heinrich sorgfäl 
tig untersucht hatten, entschieden von der ferneren Behandlung mit 
Wasser ab, ebenso Dr. Böcker auch noch von dem Scarificiren. Mir 
wurde mitgetheilt, daß Heinrich an der Tuberculose der Lun 
gen leide und sich im 2ten Stadium der Krankheit be 
finde, daß er verloren sei, wenn die Tuberkeln sich nicht 
resorbirten. Dr. Lehmann war nicht gagen die Fortsetzung der 
Wasserkur im nächsten Frühjahre; Böcker wollte dann nur noch 
Sitzbäder anwenden. Er verordnete täglich 3 Gaben des cornu cervi 
•usti unb wünschte, daß Heinrich nicht von Ihnen entlassen 
worden wäre! Ich würde es nicht zugegeben haben, wenn 
ich gewußt hätte, daß der Junge an Lungentuberkeln 
litte*). Es ist wahr, die ganze von mir überwachte vernünftige Was 
serkur hat vom Februar d. I. an den Husten nicht getilgt, der Junge 
ist aber kräftiger geworden; das Fieber, welches sich nur im Februar 
zeigte, findet sich jetzt erst wieder, seit er nicht mehr eine durchgreifende 
Wasserkur gebraucht. Es giebt keine andere Hülfe für ihn, als mäßige, 
allgemeine Anregung des Stoffwechsels und Ableitung des Krankhaften 
von den Lungen, bei gleichzeitiger sehr guter (?) Ernährung. Böcker 
wies meinen Vorschlag der Ableitung durch Baunscheidtismus mit der 
Bemerkung zurück: „Ableitung ist Entzrehung (!) und dem Knaben 
*j Anmerkung. Mir ist unbegreiflich, wie der sonst so gescheidte 
Mann hier schreiben mag, er habe nicht gewußt, daß sein Heinrich an 
Lungentuberkulose leide, da ihm doch das Ergebniß der ärztlichen Unter 
suchung und der Diagnose bei Beginn der Kur meinerseits nicht 
fremd geblieben, auch jeder etwas krankheitskundige Laie auf den 
ersten Blick Heinrich als einen Hecticus erkennen mußte, bei dem noch 
eine weit verzweigte Caries am Arme und Beine hinzukam, als spre 
chendster Beweis für eine totale Säfteentmischung. Ebenso unbegreif 
lich ist mir sein präsumirtes„Kehlleiden", da er in dem Brief vom 31. 
August Heinrichs „Brust" den am meisten kranken Theil seines Körpers 
nenüt. Was ferner den Vorwurf anbelangt, „ich hätte Heinrich 
nicht fortlassen sollen", so trifft mich derselbe ganz und gar 
ungerechter Weise. Ich hätte mich vielleicht den gravirendsten Anspie 
lungen, wie z. B. Gelpintereffe, oder hochweise Einbildung, oder sonst 
einer ähnlichen Beschuldigung, ausgesetzt gesehen, wenn ich im Septem 
ber wirklich fest daraus bestanden wäre, daß Heinrich absolut nicht fort 
dürfe! Ich hatte meine Pflicht erfüllt, als ich schrieb: „ich für meine 
Person würde Heinrich lieber in Br. behalten!" Wem das nicht ge 
nug ist, dem kann ich nicht mit Fractur nachhelfen, wenn er mir zu 
gehorchen nicht verpflichtet ist.
	        
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