Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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weitere Fachschulen übergeführt, fort und fort sich als beson 
ders qualificirt zu Aerzten und Aerztinnen erweisen, wenig 
stens blos in öffentliche Aemter berufen, d. h. als Aerzte in 
öffentlichen Krankenhäusern, in Militairlazarethen, als Lehrer an 
Universitäten re. angestellt werden. , Im Uebrigen wäre dem 
dann ebenfalls bald ganz anders sich gestaltenden Urtheile des 
Publikums das Richteramt über die Befähigung eines Arztes 
und über die Würdigkeit desselben als Hausarzt re. zu über 
lassen. 
Adolph also war ein solcher geborener Naturarzt, der, 
ohne professioneller Arzt zu sein und ohne die, vermöge des 
noch bestehenden Schutzzolls für medicinisches Studium, leider 
immer noch erforderliche gesetzliche Universitätsbesähigung dazu, 
doch ungemein vielen Familien schon ein aus Krankheits- und 
Todesgefahr rettender Engel geworden war. Ausgerüstet mit 
tüchtigen Kenntnissen von den Einrichtungen des menschlichen 
Körpers, von dem Charakter der Krankheiten im Allgemeinen 
und den bekannten Gesetzen in der Natur überhaupt — Äennt= 
nissen, welche er sich neben seiner kaufmännischen Thätigkeit 
in weiser und edler Benutzung der Mußestunden angeeignet 
hatte — wußte er meist bei jedem ihm (sei es in eigener 
Familie oder bei Fremden, die sein Herz und seine Begabung, 
wie seine Kenntnisse in Anspruch nahmen) vorkommenden Krank 
heitsfall sofort den Nagel auf den Kopf zu treffen, d. h. also 
— wie schon oben gesagt —, die gerade bestehende Behinde 
rungsursache für freies Walten der eigenen Heilkraft des betr. 
Körpers mit dem geeignetsten der (ebenfalls oben genannten) 
einfachen Hülfsmittel zu beseitigen. Wie konnte es daher 
anders sein, als daß seine Worte für Emilie wahre Evan 
gelien wurden und daß selbst Neuborn jetzt mit der größten 
Theilnahme seiner Rede lauschte, wenn er die Gründe für 
die angeordneten Maßregeln auseinandersetzte und Lehren für 
die Zukunft gab. Wer um diese Zeit und seitdem Gelegen 
heit hatte, die Familie zu beobachten, zu sehen, wie Emiliens 
Augen und Ohren stets offen waren, nicht blos für Erlau- 
schung der gemachten Andeutungen des (acut) kranken Kör 
pers auf seinem Leidensbette, sondern auch in und für die 
anderen sonst meist unbemerkten Kundgebungen der Körperin 
dividualität und des Charakters von jedem Kinde, ja von allen 
Hausgenossen, wer da wahrnahm, wie auch Neuborn jetzt we 
nigstens stets einen Theil seiner Freizeit benutzte, um sich die 
für das Familienleben, wie fast nichts Anderes, schätzbaren 
Kenntnisse von der Naturheilmethode anzueignen — wer das 
sah, dem mußte es wohl und ruhig um's Gemüth werden; 
denn er sah das Glück der liebenswerthen Familie nicht mehr 
von den aus acuten Krankheiten so sehr oft aufsteigenden 
und zerstörungsfähigen Gewittern umgeben, er sah sie ge- 
waffnet mit Kenntnissen fron den Hülfsmitteln der Natur ge 
gen die meisten aus dieser selbst stammenden Gefahren, aber 
eben so erhoben über die aus eigener fehlerhafter Lebens- und 
Handlungsweise der Menschen resultirenden Drohnisse — aber 
mals durch die Kenntnisse, die die Bücher Adolphs über Na 
turheilkunde und Diätetik ihnen erschlossen. 
Aber auf der linken Seite des Titel-Bildchens — hören 
wir manchen Leser fragen — was ist da los? warum hält 
da die doch wohl in der Matrone gemeinte Großmama noch 
die Kaffeekanne fest und warum stellt sich, verbergend durch ihr Kleid 
chen, Pauline vor den Tisch, worauf noch Arzneiflaschen zu se 
hen? Ihr lieben Mütterchen oder JhrAngehörige solcher, seid un 
besorgt — wir nehmen den Alten nicht ihre liebgewordenen Ge 
wohnheiten, am wenigsten bevor man uns um Belehrung über 
die Folgen davon und beziehendlich um guten Rath dagegen 
angegangen! Wir sind zufrieden, wenn uns das Alter nur 
der jüngeren oder mittleren Generation gegenüber gewähren 
läßt, sich den Lehren, welche wir für diese ertheilen, nicht mit 
vorgefaßter Meinung und mit der Idee entgegenstellt: die 
Nachkommen würden es nicht besser wissen, als sie, die Alten. 
Das ist freilich falsch, und solches Entgegentreten müßten wir 
bekämpfen. Wir achten und ehren gewiß die Erfahrungen 
des Alters und treten gern nach der stets nachahmungswür 
digen spartanischen Sitte mit Ehrerbietung vor dem Alter zu 
rück, soweit das Alter an und für sich und die Erfahrungen 
desselben z. B. aus dem sittlichen, auf dem socialen, auf dem 
pädagogischen oder sonst welchem mehr oder weniger stabi 
lem Gebiete uns diese Anerkennung und Bescheidenheit zur 
Pflicht machen. Aber wenn das Alter auf Gebieten, welche 
von den Naturwissenschaften gebildet oder nahe umgrenzt wer 
den , welche also mit der steten Fortentwickelung der letzteren 
ihre Gestalt und Eigenthümlichkeit selbst stetrg ändern müssen, 
jüngeren Lehrern und Generationen überhaupt seine Ansichten 
als fort und fort maßgebend aufdrängen will, so schadet es 
sich und den Nachkommen zugleich und beschwört nothwendig 
einen Kampf Herauf, bei welchem es doch zuletzt unterliegt 
und die bittere Erfahrung der inneren Nothwendigkeit der 
Fortentwickelung, zugleich mit der seiner dem Stillstand und 
Rückschritt des Körperlebens entsprechenden Stagnation geisti 
ger Kraft, oft genug machen muß. Auch unserer Großmama 
im Bilde und in der Neuborn'schen Familie erging es so; ihr 
starres Festhalten an den mit ihr verwachsenen Ueberzeugun 
gen trug Emilie sanft und kindlich ergeben, wie fich's gehört. 
Aber sobald sie sich dem durch Emilien repräsentirten Zeitbe 
wußtsein und der fortgeschrittenen Erkenntniß von z. B. phy 
sischer Kindererziehung, von Krankheitsbehandlung und von der 
praktischen Bildungsrichtung im Familienkreise thatsächlich ent 
gegenstemmte, da brachen die Conflicte aus, welche ihr mit 
dem Tode mehrerer ebenfalls so heiß geliebter Enkel die An 
erkennung aufnöthigten, daß das Einzel-Individuum in seiner 
Erkenntniß an einer Grenze anlange, über welche hinaus es 
kein Verständniß mehr besitzt, über welche hinaus es sich da 
her auch der Mit- und Fortwirkung begeben muß. — Groß 
mutter Neuborn saß seit Fränzchens und Lieschens Hingang 
meist still und stumm in ihrem weichen Pylsterstuhle; der 
Morgen, Mittag und Abend' 'brachten ihr ungeschmälert die 
gewohnten Genüsse auf das Tischchen ihr zur Seite, und auch 
Adolph, als befruchtend seine Lehrerworte über die Familie 
sich ergossen, dachte nicht daran, dem Mütterchen ihr Lieb 
lingsgetränk, den Kaffee,-zu entziehen. Aber dem Mütterchen 
selbst dünkten diese Worte ein vernichtender Blitz und Donner, 
diese Worte, mit denen Adolph allerdings darauf hinwies, es 
sei heißes Getränk, ebenso wie erregendes, Gift für das Kin 
desleben, und solle der jugendliche Organismus gedeihen, 
nicht der Gefahr der leichtesten Zerknickung "schon durch ge 
wöhnliche Entwickelungs-u oder Reinigungskrankheiten ausge 
setzt sein, so müsse in Speise und Trank, in Kleidungsart 
und Schlafgewohnheit, in Sitzen und Stubenhocken und dergl. 
mehr, Alles vermieden werden, was die inneren Organe in 
besondere Thätigkeit und vorwiegenden Reiz versetzen, die 
äußere Körperhaut aber verzärteln und für ihr großes Rei- 
nigungs- und überhaupt Nerven-Regulirungs-Geschäft durch 
Schwächung unfähig machen könne. — Solche Worte Adolphs 
hatten die Großmama erschreckt, und ängstlich. hatte sie ihr 
Kännchen umklammert, besorgte und böse Blicke nach dem 
hausumwälzenden Naturarzt werfend. Es . war unnöthig, 
Großmütterchen! Adolph küßte dir ja gleich nach seinen
	        
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