Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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die, daß die Heilung ein Werk der eigenen inne 
wohnenden Naturkraft ist? — Ja, wenn man in Be 
tracht zieht, daß trotz Anwendung verkehrter Mittel doch 
so öfters Heilung eintritt, so folgt daraus, daß der mensch 
liche Organismus sogar ungeheure Eingriffe ertragen kann 
und daß die Lebenskraft bisweilen den Sieg über ihr ent^ 
gegenstehende Hindernisse unter Umständen davonträgt, wo es 
kaum zu erwarten steht. Es muß diese Kraft also auch eine 
sehr bedeutende Stärke besitzen, und mit Recht dürfen 
wir sie daher — für die Zwecke unserer irdischen Bestimmung 
— als die schönste Mitgift ansehen, die uns der allgütige 
Gott bei unserer Schöpfung verleihen konnte. 
Diese Ansicht über die Heilkraft der Natur ist aber kei 
neswegs eine erst der neueren Zeit entstammende. Bereits 
die ältesten Völker ehrten diese innere Kraft, indem sie ihren 
Fingerzeigen, nämlich dem natürlichen Instinkte, folgten*), und 
schon Hippokrates nannte sie die „lex sacratissima Medico- 
rum“. Desgleichen sagt Dronti: „Es ist ein Arzt in uns, 
der alle Aerzte an Klugheit, Einsicht und Geschicklichkeit über 
trifft, er ist es allein, der alle Krankheiten heilt. 
Wohl dem, der seine Stimme hört, sie versteht und ihr ge 
horcht; wohl ihm, er wird neunmal unter zehn der ihm dro 
henden Gefahr entschlüpfen, und selbst wenn sie ihn zum 
zehnten Male ergreift, durch seine Hülse sie glücklich über 
winden." 
Ich glaube, Sie sind mit dem, was ich über die Lebens 
kraft gesagt habe, einverstanden, halten dieselbe mit Ueberzeu 
gung für eine starke und mächtige, und finden es gleichfalls 
höchst wahrscheinlich, daß die Procedur des Heilens stets 
von der Thätigkeit des erkrankten Organismus selbst ausgeht, 
d. h. ein Werk der Naturheilkraft ist. — Es bleibt mir nun 
noch übrig, einiges Wenige über die Anregung und Hinder 
nißbeseitigung zu sagen. 
Diese beiden Punkte anlangend, erinnere ich an Ertrun 
kene, Erfrorene und Scheintodte, welche durch Anwendung 
irgend welcher Mittel wieder zum Leben gebracht worden sind. 
Schon oben ist gesagt worden, daß eine mittelbare und zwar 
absichtliche Einwirkung auf die Thätigkeit des Organismus 
insoweit möglich sei, als wir die auf ihn erfolgenden Ein 
flüsse in die Gewalt zu nehmen im Stande sind, und daß 
ein solches Eingreifen in vielen Fällen sogar nöthig und ge 
boten erscheine. Durch die hier angeführten Beispiele wird 
dies hoffentlich bestätigt, denn sie zeigen, daß es Fälle giebt, 
wo die Lebensthätigkeit des Organismus ohne äußeres Ein 
greifen nicht wieder eintritt, sondern vollends verlöscht, und 
daß ihr Eintritt (in der erforderlichen Maße) erst dann wie 
der erfolgt, wenn die Lebenskraft angeregt wird, wenn 
ferner die ihrer Thätigkeit im Wege stehenden Hindernisse 
beseitigt und günstigere Zustände herbeigeschafft werden. 
An diesen Beispielen ist ferner zu entnehmen, daß eine Anre 
gung der Lebenskraft mit sehr einfachen Mitteln bewerkstelligt 
werden kann: durch Bäder, Abreibungen, Frottirungen und 
also durch Wärmeerzeugung und durch Einwirkung aus die 
Nerven, z. B. auf die Geruchs- und Gefühlsnerven u. s. w. 
Ebenso einfach ist bekanntlich in diesen Fällen die Beseitigung 
» von Hindernissen (z. B. Wasserentleerung bei Ertrunkenen) und 
die Herbeiführung von Umständen, welche aus die Lebensthä- 
tigkeit Vortheilhaft wirken. —- Man kann nun zwar entgegen 
*) In unserer cultivirten Zeit kann freilich, außer etwa bei klei 
neren Kindern und in einer acuten Krankheit, von Instinkt nicht mehr 
viel die Rede sein. 
halten, daß die angeführten Fälle keine eigentlichen Krank 
heitsfälle sind. Das sind sie allerdings nicht und sollten es 
auch nicht sein. Wenn wir aber, gestützt auf vielfache Beob 
achtung und Erfahrung und vergewissert durch Aussprüche 
tüchtiger Aerzte, behaupten müssen, jede Krankheitsheilung ist 
ein Werk der eigenen Lebenskraft und es braucht die Heilthä- 
tigkeit des Organismus nur auf geeignete Weise angeregt und 
unterstützt zu werden zum Zwecke eines möglichst sicheren, 
schnellen und vollkommenen Heilprocesses: so dienen uns die 
erwähnten Fälle doch gewiß als eine Bestätigung zu dieser 
Ansicht, deuten aber auch zugleich an, daß ebenso eine Anre 
gung der Lebenskraft, wie eine Unterstützung derselben durch 
sehr einfache und in ihren weiteren Folgen un 
schädliche Mittel bewerkstelligt werden könne, in jenen 
genannten Fällen schnell vorübergehend, bei eigentlichen Krank 
heiten mehr oder weniger andauernd. — Nächstdem gestatte 
ich mir noch eine Berufung auf den berühmten Dr. Fr. 
Hoffmann, Professor der Medicin in Halle (1660—1742), 
der auch kein Freund von künstlich zusammengesetzten Heilmit 
teln war. Derselbe sagt in seiner „Gründlichen Anweisung, 
wie der Mensch seine Gesundheit erhalten kann rc. Halle 
1817, Th. I. 136": „Die Medicin war in den allerältesten 
Zeiten in einer viel besseren Verfassung, weil man damals 
nur wenig aus den Gebrauch der innerlichen Arzneimittel an 
kommen ließ, und vielmehr darum bekümmert war, diejenigen, 
so mit Krankheit beladen, durch Anrathen einer vernünftigen 
Lebensart (Mäßigung im Essen und Trinken, zeitige und auf 
die Umstände jeder Person vernünftig eingerichtete Bewegung 
und mehr dergleichen, ganz und gar nach keiner Apotheke 
riechende Mittel) sich selbst helfen und die Ursache ihrer Be 
schwerung fortschaffen zu lassen. Wer seine Gesundheit 
liebt, flieht die meäleos (die Recepte schreibenden) und 
Arzneien, als Grundregel der Lebensordnung." — 
Nachdem ich Ihnen die Ansichten vorgeführt, welche dem 
von unserem Vereine gebilligten Heilverfahren als Grundlage 
dienen, theile ich Ihnen noch die Grundsätze mit, welche 
für die aus jenen Ansichten hervorgehende Heilmethode, 
d. h. für die Art und Weise der Anwendung von Mitteln 
oder für deren besondere Handhabung in den einzelnen Krank 
heitsfällen, wesentlichst maßgebend sind. Es sind dies fol 
gende: 
I. Ist der natürliche Heilungsproceß einer Krankheit, der 
sich in der Regel durch Fiebereintritt kundgiebt, so im Gange, 
daß nichts zu fürchten steht und nichts zu wünschen bleibt, 
dann ist weiter nichts zu thun, als dafür zu sorgen, daß der 
selbe in seinem Verlaufe nicht gestört werde. 
II. Zögert der natürliche Heilungsproceß in Folge von 
Mangel an Lebensthätigkeit, dann ist die Lebenskraft (der 
Organismus) anzuregen, aber nur durch einfache und in 
ihren weiteren Folgen unschädliche Mittel. 
III. Schlägt der natürliche Heilungsproceß, wegen ein 
getretener Hindernisse oder durch irgend welche Umstände her 
beigeführt, eine falsche und Unheil drohende Richtung ein, 
dann ist unterstützend einzugreifen und der Verlauf durch An 
wendung ebenfalls einfacher, natürlicher und in ihren weiteren 
Folgen unschädlicher Mittel zu leiten und zu regeln. — 
Ueber die anzuwendenden Mittel selbst und ihre specielle 
Anwendung zu sprechen, liegt außer dem Bereiche meines 
heutigen Themas. Ich wiederhole nur, daß wir keine ande 
ren als zulässig und nothwendig erachten, als solche, die auch 
.in gesunden Tagen zur Erhaltung des Lebens und zur Stär 
kung der Kräfte dienen, von denen ich nochmals Diät und
	        
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