Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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einer folgen Einwirkung zu begründen suchen. Denken wir 
zu diesem Zwecke an andere Kräfte in der Natur, z. B an 
die elektrische Kraft in der Wetterwolke, oder an die Trieb 
kraft in der Pflanze. „Können die besagten Kräfte ange 
regt (erregt) werden? Kann man ihrem Wirken Hinder 
nisse in den Weg legen? Können Hindernisse, die ihre 
Thätigkeit zu hemmen vermögen, beseitigt werden?" Ohne 
Zweifel sprechen wir hierzu „ja". In ähnlicher Weise halten 
wir denn auch eine Anregung der in uns befindlichen Lebens 
kraft, oder eine Beseitigung der dem Wirken derselben ent 
gegenstehenden Hemmnisse für möglich, freilich nur unter einer 
gewissen Bedingung, nämlich nur dann, wenn wir wenigstens 
einige von den auf jene Kräfte Einfluß habenden Umständen 
in unserer Gewalt haben. Wenden wir das, was hier von 
den Naturkräften im Allgemeinen gesagt ist, auf die in unse 
rem Körper wohnende Kraft an, so ergiebt sich — wie ich 
glaube — folgender Satz: „Ebenso, wie sich Etwas thun 
läßt in Betreff der Erregung und Hebung jener Kräfte 
in der uns umgebenden Natur und in Betreff der Hinder 
nisse, die ihre Thätigkeit zu hemmen und zu mäßigen vermö 
gen; ebenso wie sich Etwas thun läßt in Betreff der Folgen, 
welche ihr Wirken nach sich zieht; und ebenso wie sich diese 
Folgen in ihrem weiteren Verlaufe bis zu einer gewissen 
Grenze regeln lassen: in gleicher und ähnlicher Weise läßt 
sich auch auf die in Frage stehende Lebenskraft einwirken, 
wenn man im Stande ist, die auf sie erfolgenden äußeren 
Einflüsse oder doch einen Theil derselben in die Gewalt zu 
nehmen." Da wir nun das Letztere vermögen, — freilich immer 
nur bis zu einer gewissen Grenze —, so halten wir zwar 
keine directe, wohl aber eine indirecte Krankheitshei 
lung für möglich. Wir halten sie jedoch von unserem 
Standpunkte aus nur insoweit für möglich, als es in unserer 
Macht steht, die Lebenskraft durch unschädliche (assimilirbare) 
Mittel und Einflüsse anzuregen und zu heben und den er 
krankten Organismus mit seiner Außenwelt, d. h. „mit den 
ihn umgebenden und sein Fortbestehen bedingenden Einflüssen 
in ein solches Wechselverhältniß zu setzen, unter welchem die 
Rückkehr des gestörten Normalzustandes am leichtesten erfolgt, 
wodurch die, sei es von Innen oder Außen gekommenen und 
noch fortdauernden Hindernisse gehoben und das Heilsame an 
die Stelle des Schädlichen gesetzt wird." — 
Nach diesen beiden dargelegten und aus Naturanschau 
ungen hervorgehenden Grundansichten, nämlich nach der An 
sicht über die in uns wirkende Kraft selbst und ihre Anre 
gung, sowie nach der Ansicht über die Hinderniß-Beseitigung, 
ist — nach unserem Dafürhalten — hauptsächlich zu bemes 
sen, ob ein Heilverfahren naturgemäß ist oder nicht; und in 
diesen Ansichten müssen auch die Grundsätze zu der einem 
naturgemäßen Heilverfahren entsprechenden Heil Methode, 
d. h. diejenigen Sätze ihre Basis und ihren Ausgangspunkt 
haben, welche für die Art und Weise des Eingreifens 
in den einzelnen Fällen als Richtschnur dienen. 
Wenn ich nun auch glaube, bis hieher das Wesentlichste 
zur Begründung des von unserem Vereine gebilligten Heilver 
fahrens berührt zu haben, so halte ich es doch zur noch ge 
naueren Bezeichnung unseres Standpunktes für nöthig, noch 
etwas näher auf diese Anregungsart der Lebenskraft, sowie 
auch auf die Hindernißbeseitigung einzugehen. Aus 
dem, was ich noch weiter zu sagen gedenke, dürste sich zu 
gleich auch ergeben, ob denn die Lebenskraft, die man in 
Krankheitsfällen auch „Natur-Heilkraft" oder schlechthin 
„Heilkraft" zu nennen pflegt, allemal des äußeren Zu 
thuns bedürfe, mit anderen Worten: ob die Heilkraft der 
Natur in jedem Krankheitsfälle angeregt und unterstützt wer 
den müsse. 
Wenden wir uns also zunächst der Lebenskraft (Heilkraft) 
selbst noch einmal zu, um Genaueres noch über sie zu erfah 
ren. „Es wird diese Kraft zwar ein in ihrem Wesen nie 
mals zu entschleierndes Geheimniß bleiben; aber aus ihren 
Aeußerungen, aus ihren bis zum letzten Lebensmoment sich 
kundgebenden, sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen läßt sich 
doch schon Einiges abnehmen." Hören wir zuvörderst, was 
der erfahrene Hufeland darüber sagt. Derselbe spricht: .,Es 
giebt keine Krankheit, vom heftigsten Entzündungsfieber bis 
zur fauligen Pest, von der Suppression bis zu den Proflu- 
vien, von den dynamischen Krankheiten bis zu den Dhskra- 
sien, die nicht schon durch die Lebensthätigkeit allein geheilt 
worden wäre." Hufeland kann mit diesen Worten nichts 
anderes haben sagen wollen, als daß schon in den verschie 
densten und schwersten Krankheiten Heilung erfolgt ist auch 
ohne ärztliche Hülfe, und als die Ursache der Heilung nennt 
er die Lebensthätigkeit, d. i. die Lebens- oder Heilkraft der 
Natur. Aus diesem Ausspruche, dem sich noch viele ähnliche 
von anderen Aerzten anreihen ließen, geht aber (abgesehen von 
noch anderen Folgerungen) klar hervor, daß nicht allemal 
bei Krankheitsfällen ein ärztliches Eingreifen nöthig ist. Und 
die Richtigkeit dieser Ansicht bestätigt sich noch immer — fast 
täglich — vor unseren Augen. Denn, ebenso oft es vor 
kommt, daß eine Krankheit eintritt, ohne daß wir die Ursache 
davon wissen, ebenso oft kommt es vor, daß Unwohlsein und 
Krankheit wieder schwinden, ohne daß wir uns bewußt sind, 
Etwas zu ihrer Beseitigung absichtlich beigetragen zu haben. 
Den Satz: „die Natur vollbringt in vielen Fällen das Hei 
lungsgeschäft ganz allein", dürfte daher kaum Jemand wider 
legen wollen. — Indeß wir gehen noch weiter. Die in unse 
rem Vereine geltende Ansicht geht dahin, „daß derjenige Act, 
den wir Genesung oder Heilung nennen, allemal ein Werk 
der Naturheilkraft ist", weshalb wir auch des Arztes Hülfe 
lediglich auf eine Anregung und Unterstützung des Organis 
mus beschränkt wissen wollen. Ob diese Ansicht richtig ist? 
Stricte beweisen läßt sie sich allerdings nicht; aber es läßt 
sich Vieles anführen, wodurch sie bestätigt, sogar zur größ 
ten Wahrscheinlichkeit erhoben wird. Die folgenden 
Bemerkungen mögen dies darthun: 
Ich erinnere Sie nämlich an die verschiedenen existiren- 
den Heilmethoden, die — obwohl oft einander geradezu ent 
gegengesetzt — doch in vielen Fällen ein und dasselbe Re 
sultat liefern, nämlich zur Genesung führen. Ich erinnere 
Sie an die glücklichen Kuren so mancher Wunderdoctoren und 
Quacksalber und an die günstigen Erfolge des Gebrauches 
von Universal-Kräuterarzneien, Pillen, Pflaster rc. Veran 
lassen diese und ähnliche Erscheinungen nicht zu der Annahme, 
daß die betreffenden Heilungen (soweit es wirklich solche wa 
ren) höchst wahrscheinlich durch etwas ganz Anderes be 
wirkt worden sind, als durch die zum Zwecke der Heilung an 
gewendeten Mittel? Ja, berechtigen diese Thatsachen nicht 
zu einer solchen Annahme? Wenn solche hochgepriesene Uni 
versalmittel also höchst wahrscheinlich keine Heilmittel 
sind, und wenn bei ein und derselben Krankheitsspecies Gene 
sung erfolgt, obgleich in dem einen Falle Mittel angewendet 
werden, die den im anderen Falle angewendeten Mitteln be 
treffs ihrer Wirkung entgegengesetzt sind, ja, aller menschlichen 
Beobachtung zufolge, der Natur des Uebels geradezu wider 
sprechen: welche Wahrscheinlichkeit liegt dann wohl näher, als
	        
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