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tomie, Physiologie und die Anwendung derselben auf die Pa
thologie — mit anderen Worten — etwas theoretische und
praktische Heilkunde betrieben werden sollen, weil die Schulen
ganz andere Zwecke 22 ) zu verfolgen haben und hier auch
nicht der gehörige Boden dafür gefunden würde, so sehe ich
doch ein, daß mit der Popularisirung aller Wissenschaften,
I insbesondere der Naturwissenschaften, auch die Medicin ihre
exclusive Stellung ausgeben muß. Die Fachmänner selbst
tragen dazu bei (?), in der sehr richtigen Voraussetzung, daß
je verbreiteter die Aufklärung sein wird, je richtigere Ansich
ten über Zweck und Mittel der Heilkunde sich geltend machen,
die Achtung vor her Medicin im Volke selbst nur gewinnen
kann. Nur so werden sich Irrthümer widerlegen und Aus
schreitungen der Laien vermeiden lassen.
Wer eine genauere Kenntniß von dem Umfange der Heil
kunde und der zu ihrer Ausübung nöthigen Vorkenntnisse be
sitzt, dem wird es am allerwenigsten einfallen, sich den studir-
ten Aerzten gleichzustellen. Hat er sich diese Kenntnisse an
geeignet, auch wenn er es durch Selbststudium gethan und
keine Universität besucht hat, nun so ist er eben kein Nicht
arzt, kein Laie mehr und zur Ausübung der Praxis zu
zulassen. Gegen jede Halbwisserei aber, sie gehe von den
Nichtärzten oder den sogenannten gelehrten Aerzten aus, müs
sen wir uns aus Humanitätsrücksichten, also nicht aus Kasten
geist, aus sachlichen — nicht aus persönlichen Gründen ein
für allemal entschieden erklären 23 ).
Die Diagnose ist, um das zuerst hervorzuheben, die we
sentlichste Bedingung einer rationellen Behandlung. Es giebt
wohl Krankheitsfälle, die auch der Nichtarzt leicht erkennen
kann, die glücklich verlausen, ob man sie erkannt hat oder
nicht, ob man sie so, oder anders behandelt; es giebt aber
auch eine ungleich größere Zahl, deren Erkenntniß die genau
esten anatomischen, physiologischen, pathologischen, ja nicht
selten sogar physikalischen und chemischen Kenntnisse voraus
setzt. Ich erinnere hier nur an die Lungen- und Rippenfell-
Krankheiten, an die Unterscheidung organischer und nichtor-
ganischer Herzleiden, an die Diagnose der verschiedenen Krank
heiten der Verdauungs-, der Harn- und Geschlechtsorgane,
an die Fertigkeit im Untersuchen mittels des Stethoskops,
des Augenspiegels, an die chemischen Untersuchungen des Urins,
an das Verfahren bei Harnröhrenstrikturen u. s. w. 24 25 * ) Be-
22 ) Wir sind der Ansicht, daß die gehörige Körperkenntniß
re. der nächste Zweck für die Menschenbildnng sein müßte nnd auch
künftig sein wird! Die Red.
2^) Der Herr Verf vergißt hier, Rücksicht auf die sehr mögliche
Behandlung (nach physiatrischen Grundsätzen) aller acuten Krankheits
erscheinungen durch Laien zu nehmen. In diesen, die selbstthätigste
Heilanstrengung der Körperkraft darstellenden Krankheiten fieber- oder
entzündungshaster Art mag jeder Familienvater getrost mit den aus
bloßen guten hydriatischen Handbüchern geschöpften Kenntnisse vom
Naturheilverfahren an's Krankenbett treten und wirken Hat er freilich
einen schon erfahrenen Naturarzt in der Nähe, so wird er, zu Anfang
seines Studiums wenigstens, gut thun und seine Befestigung sehr be
schleunigen, wenn er diesen zu Rathe zieht. Die Red.
So sehr wir dem Herrn Verf beipflichten, wenn er die grö
ßere Schwierigkeit der physiatrischen Behandlung chronischer Uebel
hervorhebt, so vermögen wir doch seine Anschauung hinsichtlich der
Diagnose nur bedingungsweise zu theilen Was nützt die geschick
tere Handhabung des Stethoskops, des Augen-, Ohren- und Mutter
spiegels u s. w, wenn auf der anderen Seite eine gehörige phystolo-'
gische Diagnostik namentlich gegenüber den Nervenverhältnissen in
der Haut und dem Gefäßsystem des betr Patienten fehlt?
Eine kranke Lunge z, B. wird der Arzt, der sie als solche mit
tels der Diagnostik durch das Gehör erkannt hat, doch nimmermehr
heilen oder nur etwas länger erhalten, der kein Verständniß für die
Wechselbeziehung zwischen äußerer Haut und Lungenthätigkeit, oder
sitzt der Laie dieses diagnostische Talent und diese Fertigkeit,
nun so ist er, wie bereits oben gesagt, kein Laie mehr. Der
sogenannte praktische Blick, aus den sich spnst die Laien und
die Aerzte so viel einbildeten, ist oft nur tmuSuCSv, ^er er
ergänzt, oder deutet an, was durch genauere Untersuchung
und Prüfung erst festgestellt werden muß. Zu allen diesen
diagnostischen Erfordernissen kommt aber noch die praktische
Kenntniß des eigentlichen Heilkünstlers, welche nur durch jah
relange Uebung in Kliniken und Hospitälern durch die An
schauung und Vergleichung vieler ähnlichen Fälle gewonnen
werden kann. Ist schon diese Kunst nicht jedem Arzte eigen,
dem doch die Gelegenheit so reichlich zu Gebote steht, so wird
dies bei dem Nichtarzte noch viel seltener der Fall sein.
Deßhalb kann ich nur ausnahmsweise bei großer
nicht mehr laienhafter, und streng nachgewiesener
Befähigung und nur unter den obigen Voraus
setzungen dieLaienpraxis billigen, und sie gesetz
lich nur unter besonderen Umständen und sorgfäl
tiger Ueberwachung gestatten 2 ^).
Die Bemerkung des Herrn Verfassers, daß die theilweise
falsche Ausübung der Wasser- oder Schroth'schen Kur durch
einen Laien bei weitem nicht den Schaden anrichten kann, den
so häufig die Arzeneien in der Hand des gelehrtesten Fachge
nossen haben, ist wohl nicht ernstlich gemeint, und wenn sie
es ist, so zeigt sie, wie ungerecht und vorurtheilsvoll er das
Verhältniß beider Methoden auffaßt. Was nützen kann, muß
nach dem richtigen Volksglauben auch schaden können. Der
positive Nachtheil, den eine falsch angewendete Wasser- oder
eine nicht angezeigte, von unkundiger Hand durchgeführte
Schroth'sche Kur bringen kann, ist in den Annalen mancher
Wasserheilanstalt zwischen den Zeilen und in manchen Tage
büchern der Kranken, die den Verlauf ihrer Leiden und die
Folgen der Behandlung beschreiben, nachzulesen. Aber auch
der indirekte Schaden, den das Versäumniß besserer Mittel
und seien sie selbst aus der, dem geehrten Herrn Verfasser
so verhaßten Medicinheilkunde genommen, herbeiführen kann,
ist nicht zu übersehen, und seinen Lobreden entgegen zu
halten 2 6).
Weit entfernt davon, den Nichtärzten gegenüber eine ge
heimnißvolle und fachstolze Rolle zu spielen, verabsäume ich
vielmehr keine Gelegenheit, mit meinen Patienten das Thema
der Heilkunde und speciell die Ausübung der Wasser- und
der Schroth'schen Kur zu besprechen. Ich mache sie mit den
Grundsätzen, den bisherigen Leistungen dieser Methoden, mit
den staunensüverthen Fortschritten in den verschiedenen medi-
cinischen Disciplinen, mit der dermaligen Richtung der Medicin
bekannt. Ich bemühe mich, meine Ansichten zu rechtfertigen
und zu begründen, aber nicht etwa deßhalb, damit „sie die
hier gelernten Principien mehr oder weniger
selbstständig für sich selbst und auch für ihre Neben
menschen anwenden — ", sondern um in ihnen das
zwischen dem Gefäßsystem des Unterkörpers und dem des Oberkörpers
besitzt. Die Red.
25 ) Ebenso wichtig wäre aber auch die Aufsicht über das blind
arzneiliche und blutlassende Verfahren, vieler Landärzte namentlich.
Die Red.
26) Wenn der Herr Verf dieselbe Gelegenheit, wie wir, hätte,
Blicke in die Folgen des arzneilichen und blutlassenden Verfahrens zu
thun, so würde er uns obige Behauptung schwerlich mehr zum Vor
wurf machen. Wir glauben nicht zuviel zu sagen, wenn wir anneh
men, daß auf 100 medicinisch behandelte und zwar fehlerhaft be
handelte Krankheitsfälle höchstens 5 physiatrisch ungünstige Aus
gänge in Folge ebenmäßiger falscher Behandlung kommen. Die Red.