Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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tomie, Physiologie und die Anwendung derselben auf die Pa 
thologie — mit anderen Worten — etwas theoretische und 
praktische Heilkunde betrieben werden sollen, weil die Schulen 
ganz andere Zwecke 22 ) zu verfolgen haben und hier auch 
nicht der gehörige Boden dafür gefunden würde, so sehe ich 
doch ein, daß mit der Popularisirung aller Wissenschaften, 
I insbesondere der Naturwissenschaften, auch die Medicin ihre 
exclusive Stellung ausgeben muß. Die Fachmänner selbst 
tragen dazu bei (?), in der sehr richtigen Voraussetzung, daß 
je verbreiteter die Aufklärung sein wird, je richtigere Ansich 
ten über Zweck und Mittel der Heilkunde sich geltend machen, 
die Achtung vor her Medicin im Volke selbst nur gewinnen 
kann. Nur so werden sich Irrthümer widerlegen und Aus 
schreitungen der Laien vermeiden lassen. 
Wer eine genauere Kenntniß von dem Umfange der Heil 
kunde und der zu ihrer Ausübung nöthigen Vorkenntnisse be 
sitzt, dem wird es am allerwenigsten einfallen, sich den studir- 
ten Aerzten gleichzustellen. Hat er sich diese Kenntnisse an 
geeignet, auch wenn er es durch Selbststudium gethan und 
keine Universität besucht hat, nun so ist er eben kein Nicht 
arzt, kein Laie mehr und zur Ausübung der Praxis zu 
zulassen. Gegen jede Halbwisserei aber, sie gehe von den 
Nichtärzten oder den sogenannten gelehrten Aerzten aus, müs 
sen wir uns aus Humanitätsrücksichten, also nicht aus Kasten 
geist, aus sachlichen — nicht aus persönlichen Gründen ein 
für allemal entschieden erklären 23 ). 
Die Diagnose ist, um das zuerst hervorzuheben, die we 
sentlichste Bedingung einer rationellen Behandlung. Es giebt 
wohl Krankheitsfälle, die auch der Nichtarzt leicht erkennen 
kann, die glücklich verlausen, ob man sie erkannt hat oder 
nicht, ob man sie so, oder anders behandelt; es giebt aber 
auch eine ungleich größere Zahl, deren Erkenntniß die genau 
esten anatomischen, physiologischen, pathologischen, ja nicht 
selten sogar physikalischen und chemischen Kenntnisse voraus 
setzt. Ich erinnere hier nur an die Lungen- und Rippenfell- 
Krankheiten, an die Unterscheidung organischer und nichtor- 
ganischer Herzleiden, an die Diagnose der verschiedenen Krank 
heiten der Verdauungs-, der Harn- und Geschlechtsorgane, 
an die Fertigkeit im Untersuchen mittels des Stethoskops, 
des Augenspiegels, an die chemischen Untersuchungen des Urins, 
an das Verfahren bei Harnröhrenstrikturen u. s. w. 24 25 * ) Be- 
22 ) Wir sind der Ansicht, daß die gehörige Körperkenntniß 
re. der nächste Zweck für die Menschenbildnng sein müßte nnd auch 
künftig sein wird! Die Red. 
2^) Der Herr Verf vergißt hier, Rücksicht auf die sehr mögliche 
Behandlung (nach physiatrischen Grundsätzen) aller acuten Krankheits 
erscheinungen durch Laien zu nehmen. In diesen, die selbstthätigste 
Heilanstrengung der Körperkraft darstellenden Krankheiten fieber- oder 
entzündungshaster Art mag jeder Familienvater getrost mit den aus 
bloßen guten hydriatischen Handbüchern geschöpften Kenntnisse vom 
Naturheilverfahren an's Krankenbett treten und wirken Hat er freilich 
einen schon erfahrenen Naturarzt in der Nähe, so wird er, zu Anfang 
seines Studiums wenigstens, gut thun und seine Befestigung sehr be 
schleunigen, wenn er diesen zu Rathe zieht. Die Red. 
So sehr wir dem Herrn Verf beipflichten, wenn er die grö 
ßere Schwierigkeit der physiatrischen Behandlung chronischer Uebel 
hervorhebt, so vermögen wir doch seine Anschauung hinsichtlich der 
Diagnose nur bedingungsweise zu theilen Was nützt die geschick 
tere Handhabung des Stethoskops, des Augen-, Ohren- und Mutter 
spiegels u s. w, wenn auf der anderen Seite eine gehörige phystolo-' 
gische Diagnostik namentlich gegenüber den Nervenverhältnissen in 
der Haut und dem Gefäßsystem des betr Patienten fehlt? 
Eine kranke Lunge z, B. wird der Arzt, der sie als solche mit 
tels der Diagnostik durch das Gehör erkannt hat, doch nimmermehr 
heilen oder nur etwas länger erhalten, der kein Verständniß für die 
Wechselbeziehung zwischen äußerer Haut und Lungenthätigkeit, oder 
sitzt der Laie dieses diagnostische Talent und diese Fertigkeit, 
nun so ist er, wie bereits oben gesagt, kein Laie mehr. Der 
sogenannte praktische Blick, aus den sich spnst die Laien und 
die Aerzte so viel einbildeten, ist oft nur tmuSuCSv, ^er er 
ergänzt, oder deutet an, was durch genauere Untersuchung 
und Prüfung erst festgestellt werden muß. Zu allen diesen 
diagnostischen Erfordernissen kommt aber noch die praktische 
Kenntniß des eigentlichen Heilkünstlers, welche nur durch jah 
relange Uebung in Kliniken und Hospitälern durch die An 
schauung und Vergleichung vieler ähnlichen Fälle gewonnen 
werden kann. Ist schon diese Kunst nicht jedem Arzte eigen, 
dem doch die Gelegenheit so reichlich zu Gebote steht, so wird 
dies bei dem Nichtarzte noch viel seltener der Fall sein. 
Deßhalb kann ich nur ausnahmsweise bei großer 
nicht mehr laienhafter, und streng nachgewiesener 
Befähigung und nur unter den obigen Voraus 
setzungen dieLaienpraxis billigen, und sie gesetz 
lich nur unter besonderen Umständen und sorgfäl 
tiger Ueberwachung gestatten 2 ^). 
Die Bemerkung des Herrn Verfassers, daß die theilweise 
falsche Ausübung der Wasser- oder Schroth'schen Kur durch 
einen Laien bei weitem nicht den Schaden anrichten kann, den 
so häufig die Arzeneien in der Hand des gelehrtesten Fachge 
nossen haben, ist wohl nicht ernstlich gemeint, und wenn sie 
es ist, so zeigt sie, wie ungerecht und vorurtheilsvoll er das 
Verhältniß beider Methoden auffaßt. Was nützen kann, muß 
nach dem richtigen Volksglauben auch schaden können. Der 
positive Nachtheil, den eine falsch angewendete Wasser- oder 
eine nicht angezeigte, von unkundiger Hand durchgeführte 
Schroth'sche Kur bringen kann, ist in den Annalen mancher 
Wasserheilanstalt zwischen den Zeilen und in manchen Tage 
büchern der Kranken, die den Verlauf ihrer Leiden und die 
Folgen der Behandlung beschreiben, nachzulesen. Aber auch 
der indirekte Schaden, den das Versäumniß besserer Mittel 
und seien sie selbst aus der, dem geehrten Herrn Verfasser 
so verhaßten Medicinheilkunde genommen, herbeiführen kann, 
ist nicht zu übersehen, und seinen Lobreden entgegen zu 
halten 2 6). 
Weit entfernt davon, den Nichtärzten gegenüber eine ge 
heimnißvolle und fachstolze Rolle zu spielen, verabsäume ich 
vielmehr keine Gelegenheit, mit meinen Patienten das Thema 
der Heilkunde und speciell die Ausübung der Wasser- und 
der Schroth'schen Kur zu besprechen. Ich mache sie mit den 
Grundsätzen, den bisherigen Leistungen dieser Methoden, mit 
den staunensüverthen Fortschritten in den verschiedenen medi- 
cinischen Disciplinen, mit der dermaligen Richtung der Medicin 
bekannt. Ich bemühe mich, meine Ansichten zu rechtfertigen 
und zu begründen, aber nicht etwa deßhalb, damit „sie die 
hier gelernten Principien mehr oder weniger 
selbstständig für sich selbst und auch für ihre Neben 
menschen anwenden — ", sondern um in ihnen das 
zwischen dem Gefäßsystem des Unterkörpers und dem des Oberkörpers 
besitzt. Die Red. 
25 ) Ebenso wichtig wäre aber auch die Aufsicht über das blind 
arzneiliche und blutlassende Verfahren, vieler Landärzte namentlich. 
Die Red. 
26) Wenn der Herr Verf dieselbe Gelegenheit, wie wir, hätte, 
Blicke in die Folgen des arzneilichen und blutlassenden Verfahrens zu 
thun, so würde er uns obige Behauptung schwerlich mehr zum Vor 
wurf machen. Wir glauben nicht zuviel zu sagen, wenn wir anneh 
men, daß auf 100 medicinisch behandelte und zwar fehlerhaft be 
handelte Krankheitsfälle höchstens 5 physiatrisch ungünstige Aus 
gänge in Folge ebenmäßiger falscher Behandlung kommen. Die Red.
	        
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