Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

175 
ad 2. Von der Stellung der Schroth'schen Kur 
zur Heilkunde ist nicht viel zu sagen. Hier findet ganz das- 
Astronomen unterschieden, daß dadurch unsere ganze Weltanschauung, 
all' unser Denken, Thun und Streben ein anderes hat werden müs 
sen! Und die Gewerbefreiheit der heutigen Tage — sie ruht aller 
dings auch, ebenso wie das Jnnungs- und Zunftwesen, zugleich im 
allgemeineren Umfange der Industrie - Entwickelung; und doch, welche 
Gegensätze zwischen beiden, welche unübersehbare Folgen der Neugestal 
tung machen sich dadurch geltend?! Glaubt der Herr Verfasser im 
Ernst daran, daß die Naturheilkunde, selbst wenn sie aus dem 
selben Stamme, wie die alte Medicin, erwachsen wäre (was aber ja 
nicht der Fall — denn Gräfenberg und Lindewiese sind keine Hörsäle 
der Universität gewesen), dasselbe ist was Medicinheilkunde, daß nicht 
ein Kampf zwischen beiden begonnen, der vielleicht ebenso lange dauert, 
wie jede der vorübergegangenen oder noch in der Entwickelung begrif 
fenen geistigen Phasen des Menschenlebens, aber doch — so Gott will 
— ebenso endet, wie jener Kampf der jungen Blätter auf dem alten 
Eichbaume gegen die Blätter desselben vom vorigen Jahre?! 
Die Anhänger der alten Medicin befinden sich in einem großen 
Irrthume: ^>ie rechnen die Forschungen und Entdeckungen, welche am 
Menschenkörper selbst, überhaupt im Reiche des Organischen, oder auch 
auf den Gebieten der Physik oder Chemie u. s w. gemacht werden, vor 
zugsweise zu den „Fortschritten der Medicin", während selbst patholo 
gische Entdeckungen, ebensowie blos physiologische und anatomische, an 
sich und zuerst, nicht der „Medicin", sondern der „Zoologie" oder „An 
thropologie^ zugerechnet und also als „allg emeine Fortschritte 
der Naturwissenschaften" angesehen werden müssen. Wir ver 
stehen wenigstens heut zu Tage unter „Heilkunde" nur die beson 
deren Grundsätze der „Therapie einschließlich der Heilmit- 
tellehre" und weisen die anderen Doctrinen, welche die Aerzte so 
gern als vorzugsweise ihrem Fache angehörig ansehen und welche dem 
Studenten (in der Encyclopädie) auch recht geflissentlich als solche be 
zeichnet werden, wie: Physik, Chemie, Mineralogie mit Geognoste, Bo 
tanik, Zoologie (und Anthropologie), ja selbst das Allgemeine und 
Faßlichste der Pathologie und Aetiologie (Krankheitslehre — wenig 
stens vom phystatrischen Standpunkte aus —), der Anatomie, Zoo- und 
Anthropo-Chemie, Physiologie und Psychologie ohne Unterschied allen 
höheren Bildungsstätten, zum Theil selbst der allgemeinen Volksschule, 
zu. Ueberhaupt wünschen und hoffen wir, daß neben der allgemeinen, 
aber vervollkommneten Volksschule mehr und mehr Fachschulen (unter 
die dann auch das ärztliche, eben so wie das juristische, theologische, 
das verschiedenartig technische, das kaufmännische rc Studium einzu 
reihen wäre) gebildet würden, 'mit gehörigem Umfange der Lehrgegen 
stände, und daß unter diesen Fachschulen die umfassendste dem Lehrer 
stande gewidmet würde, der, soweit er namentlich in der allgemeinen, 
verbesserten Volksschule zu wirken beabsichtigte, nach unserer Ueberzeu 
gung sich die größte Summe der vielseitigsten Kenntnisse aneig 
nen, aber dann auch social und pecuniär anders gestellt werden müßte. 
Diese Lehrerfachschule hätte natürlich wieder in sich in gewisse 
Abtheilungen zu zerfallen, und könnte dabei und dadurch eigentlichen 
künftigen Naturforschern Gelegenheit zu ihrer Ausbildung gegeben und 
so, aber nicht für das Fach der angewandten Heilkunde, jeder Fort 
schritt in den allgemeinen naturwissenschaftlichen Forschungen verwerthet 
und immer mehr angeregt werden, ohne daß ein Fach —..z. B. das ärzt 
liche — damit geradezu überbürdet würde, welches davon — wenn man 
ehrlich sein will — später ebensowenig Gebrauch macht und machen 
kann, als die meisten Juristen von ihren Institutionen und Pandecten 
und die Theologen von ihren Kirchenvätern und dogmatischen Sophismen. 
Die Fachschule für Aerzte aber trenne man in drei Abthei 
lungen, von denen die erste alle Eintretenden aufnimmt, nachdem sie 
in den höheren Klassen der Volksschule oder in den betr. Abtheilungen 
der Lehrersachschule alle nöthigen Kenntnisse über die Natur im nor 
malen Zustande (also aus der Kosmologie, Physik, Chemie und 
Naturgeschichte) aufgenommen haben; in dieser allgemeinen Abtheilung 
erhalten sie dann noch specieller (als bei der Anthropologie der Natur 
geschichte auf der Volksschule oder Lehrerfachschule geschehen), resp. wie 
derholt, die Anatomie und Physiologie, auch als Neues und 
eigentlich Fachliches die Pathologie, aber diese vorzüglich — nach 
den phystatrischen Erfahrungen — reducirt auf allgemeinere Gruppen, 
vorgetragen, einschließlich Aetiologie und Diagnostik, desgleichen die 
Hygieine (oder Lehre von der Erhaltung der Gesundheit). Die zwei 
übrigen Abtheilungen wären aber die eine für die bisherige Heilmit 
tellehre und Therapie, die andere für die Naturheilkunde in ihren 
verschiedenen Verzweigungen. Jede von diesen beiden letzteren Abthei 
lungen würde nun für sich und nach ihrer Richtung für die-besonderen 
selbe Verhältniß, wie bei der Hydrotherapie, statt. Auch 
sie ist eine Heilmeth ode, auch sie gehört ihren allgemeinen 
Grundsätzen nach, der Medicin an^); auch sie wird wie die 
Hydrotherapie nach denselben (?) physiologischen Regeln und Ge 
setzen gehandhabt. Dem eigentlichen Arzneiverfahren kann sie 
nur insofern entgegengestellt werden, als sie sich zur Errei 
chung ihres Zweckes nur der diätetischen und natürlichen 
Mittel bedient^). Das Wasser wendet sie ihrem Wesen nach 
nur in nebensächlicher^) Art an, ungefähr so, wie ein Allo 
path oder Homöopath neben seiner Medicin auch kalte Um 
schläge, Douchen, Sitzbäder u. s. w. als Unterstützungsmittel 
gebraucht ^). Sie kann nicht einmal mit der Entziehungs-, 
Hunger- oder Durstkur, wie sie in der alten Medicin früher 
gebraucht wurden, verglichen werden, denn dort findet der 
verdienstliche und sehr originelle Unterschied statt, daß die 
Entziehung lediglich auf diätetischen Anordnungen beruht und 
nicht noch nebenbei schwächende, medicamentöse Einflüsse wir 
ken. Sie ist daher eine selbstständige Kur Methode 
und nicht, wie der fragl. Verfasser behauptet, ein der Hydro 
therapie analoges, mit ihr zusammenfallendes (?), jedenfalls aber 
der Medicinheilkunde entgegengesetztes Verfahren. Sie unter 
scheidet sich wesentlich von der Kaltwasserbehandlung, wird 
daher auch von ihren Anhängern, weit bezeichnender, als diä 
tetisches Verfahren angeführt, dessen Berechtigung in 
sehr vielen Fällen man mit Vergnügen anerkennen muß 1 * * * * 6 * 8 °). 
Fächer, welche die bisherige allgemeine Heilkunde umfaßte, auszubilden 
suchen, also eben, bez. neben der inneren Medicin, für die Chirurgie, 
Geburtshülfe, Augenheilkunde, Ohrenheilkunde u s w.; denn in jedem 
solchen Specialfache tritt natürlich der Naturarzt, sti er Prießnitzianer 
oder Schrothianer, Magnetiseur u. f, w, größtentheils ganz anders 
auf, als der bisherige medicinische Facharzt. Die Red. 
6) Wir wollen die Antwort hierauf Autoritäten der Schroth'schen 
Schule vorerst selbst überlassen. Die Red 
7 ) Bedient sich etwa der Wasserarzt anderer, als diätetischer 
und natürlicher Mittel? Wir verweisen übriges hier auf das in unse 
ren ferneren Rechtfertigungssätzen der nächsten Nr. Gesagte Die Red. 
8) Was wäre die Schroth'sche Kur ohne ihre nächtlichen Ein 
schläge und was diese ohne Wasser? Die Red. 
2) Schlimm genug, daß Aerzte so oft ohne die nöthige Erfahrung 
von der Anwendungsart des Wassers (die sie sich ja auf Universitä 
ten und in Kliniken nicht aneignen können und aus Naturheilanstalten 
meist nicht erholen wollen), doch Gebrauch davon zu machen suchen. 
Ueberwiegend fallen diese Versuche unglücklich aus! Die Red. 
i") Wenn wir diesen Satz richtig verstanden haben, so wird da 
mit der Schroth'schen Kur eine größere Selbstständigkeit und Unab 
hängigkeit von der Medicinheilkunde zugesprochen, als der Wasserkur. 
Offen gestanden, wir mußten lächeln, als wir dieses Paradoxon lasen; 
denn es schien uns dabei, daß der Dirigent einer Wasserheilanstalt sich 
selbst Zwang anthue, eine Behauptung hinzustellen, einen Unterschied 
— gegenüber der Medicin — zu statuiren, an den er selbst nicht glau 
ben kann, mit dessen scheinbarer Annahme er nur die bisher auf 
unserer Seite stehenden Schrothianer auf die seinige ziehen möchte, ver 
möge des diplomatischen Grundsatzes äiviäe et impera. Indeß 
es dürste dem Herrn Verfasser schwer gelingen, die aufgeklärten, fort 
geschrittenen Schrothianer strategisch zu täuschen; denn in den Augen 
dieser, wie auch der rationalen Hydriaten besteht darin gerade der 
erste und wesentlichste Berührungspunkt für beide Heilformen, daß sie 
beide von der Medicinheilkunde nichts wissen wollen, sich entschieden 
von ihr lossagen und eine neue, selbstständige Aera des Heilwesens zu 
begründen streben. Solcher Berührungspunkte giebt es aber noch mehr- 
schön jetzt und werden sich immer weitere herausstellen, wenn der 
Widerstand einiger bisher auf beiden Seiten als Koryphäen dagestan 
dener Vertreter der specifischen Wasserkur oder Schroth'schen Kür zu 
Gunsten eines verständigen Austausches der Formen, bis zu einem ge 
wissen Grade wenigstens, Platz gemacht haben wird. Denn das ist den 
beiderseitigen, aber nicht einseitigen Freunden der Natnrheilknnde völlig 
klar, daß die den Hauptunterschied der Manipulation noch darstellenden 
differenten Formen, nämlich die Waschung nach den nächtlichen Ein 
schlägen und die vegetabilische und überhaupt strenge Diät, 
wie jene hydriatisch und diese schrothisch festgehalten wird, erfahrungs-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.