Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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des Wassers auf den kranken Organismus ist aber ein viel 
seitiger; denn es wirkt bald wärmeentziehend, bald er 
regend u. s. w. und wird z. B. in ersterer Beziehung als 
entzündungswidrig angewendet, daher, wie man sieht, 
nach dem Grundsätze der Hervorrufung gegenseitiger Bestre 
bungen oder directer Unterstützung des sog Naturheilprocesses 
(contraria contrariis), obwohl sich auch in manchen Fällen 
Heilungen nach dem Princip des siioilia simililbus nachweisen 
lassen. 
Die Hydriatik 2) ist also die Lehre von der Behand- 
als Mittel blos z ur B eseitigung vonHindernissen,welche sich der 
Selbstheilung der Körpernatur entgegenstellten. Jst's nun Wohl das 
selbe, ob ich ein Fieber oder eine Entzündung als nützlich oder 
schädlich ansehe und ob ich (in chronischen Krankheiten) durch Herbei 
schaffung meiner Heilmittel (Arzneien) oder derer der Natur (Fie 
ber und Entzündung) den Normalzustand zu begünstigen glaube?? 
Gewiß nicht— Die Hydriatik (oder Hydriatrik) steht vielmehr 
ebenso selbstständig da, als die Diätetik; wie letztere schon unter den 
altklassischen Völkern ihre Anerkennung — ganz abgesehen von der 
Medicin — gefunden hat, so muß es mit der Hydriatik der Neuzeit 
gegenüber geschehen, also nicht blos deshalb, weil die Lehrstühle und 
Krankenhäuser der Allopathie an und für sich nichts von ihr wissen 
wollen, sondern weil sie einen der medicinischen Denk- und Handlungs 
weise entgegengesetzten Pol, gegenüber den Körperzuständen, darstellt. 
— Die Pole einer jeden Axe stehen indeß doch, so verschiedenartig im 
Uebrigen ihre Bestimmung und Eigenschaft sein möge, in einer gegensei 
tigen Wechselwirkung, in einem gewissen Verhältnisse zu einander; und 
so glauben wir dies Wechselverhältniß und diese gegenseitige Beziehung 
zur Menschheit auch zwischen Medicin und Naturheilkunde anerkennen 
zu müssen, wenn auch die Einwirkung auf der einen Seite negativ, 
auf der anderen positiv ist Die Red. 
2 ) Der Herr Verfasser nimmt offenbar den Begriff von „Hy 
driatik" viel zu beschränkt. Zunächst müssen wir das aus dem Grie 
chischen entlehnte Wort selbst etwas näher in's Auge fassen, und zwar 
um so mehr, als es bisweilen (z. B. neuerdings in der schon oben 
citirten Zeitschrift von Richter lil. B. S 31 gewissermaßen als ein Ver 
brechen angesehen wird, sich des Oertel'schen „Hydriatik" statt des me 
dicinischen (Dr. Herschel'schen?) „Hydriatrik" zu bedienen. — Der 
Professor Oertel, der um die Naturheilkunde so hoch verdiente Mann, 
hat zwar, unseres Wissens, keine etymologische Erklärung des von 
ihm eingeführten Wortes „ hydriatisch", „Hydriatik" u s w. 
hinterlassen, ebenso wenig wie von „Hydropathisch", „Hydropathie"; 
aber wenn für letzteres allerdings keine recht Passende Grundbedeutung 
aufzufinden ist (indem man im günstigsten Falle unter„Hydropath" 
Jemanden verstehen könnte, der da „duldet, daß Wasser bei ihm 
in Anwendung komme") und daher diese Verbindung des grie 
chischen Wortes vöcoq mit ncc&os, nad-etv besser ganz in Wegfall 
kommt, so ist es doch keineswegs so mit dem Worte „Hydriatik", 
dessen Ableitung sehr füglich von vÖQia (welches ebensowohl ein 
„Gefäß mit Wasser", als eine „kleine Menge Wasser" be 
deutet) und von TLEiv (lieben, hochschätzen, achtem zulässig erscheint 
und also als „Wasserliebe" oder „Hochschätzung des Was 
sers" sehr wohl einen Sinn, ja einen besseren Sinn hat, als „Hy 
driatrik", welches (von vöooq und iaiQog — Arzt — abgeleitet) 
nur die „ärztliche" oder „therapeutische" Anwendung von 
Wasser in sich faßt. Offenbar giebt es nun aber eine „Geneigtheit 
für Genuß und sonstige Benutzung des Wassers, z. B. zum Baden, 
neben dessen therapeutischer Anwendung, also neben seiner Be 
nutzung als „Heilmittel" und die erstere ist gewiß die ebenso, wenn 
nicht noch wichtigere; sie .bedeutet soviel als die „Prophylaxe" (Ver 
hütung von Krankheiten) überhaupt neben der „Therapie". Wer sich 
durch seine Achtung und zweckmäßigen Gebrauch des Wassers „gesund" 
zu erhalten weiß, handelt jedenfalls noch weiser, als der, der sich 
erst in Krankheiten an die „ärztlicheWass eranwendung " erinnert; 
und deshalb, meinen wir, hat das Wort „Hydriatik" mindestens 
ebensoviel, wenn nicht noch mehr Werth, als das „Hydriatrik". 
Es war unsere Absicht, mit Berührung dieses etymologischen 
Streites, zugleich auf den offenbar zu enge gefaßten Sinn hinzuwei 
sen, welchen der Herr Verfasser dem Worte „Hydriatik" beilegt. 
Wir sehen nach dem Obigen darin den umfassenderen Sinn, wel 
cher Hydriatrik oder Hydrotherapie mit in sich begreift und 
möchten daher darunter „Wissenschaft von der zweckmäßig 
sten Benutzuugdes Wassers für den menschlichen Körper 
(in gesunden, wie kranken Tagen) verstanden wissen. Die Red. 
lung der Krankheiten durch (methodische) Anwendung des 
Wassers u. z. nicht nach einem eigenen Principe, sondern 
meistens nach den Regeln der Allopathie 3 ; und eine Schrift 
über Wasserheilmethode ist nichts anderes, als die Monographie 
eines Heilmittels, d. i. die Zusammenfassung alles dessen, was 
man über ein Heilmittel — „hier das Wasser" — weiß, 
wie z. B. eine Abhandlung über ein Mineralbad, ein Narco- ( 
ticum u. s. w.; natürlich, daß die umfassende und großartige 
Wirkung dieses Mittels und die nicht ganz einfache Methode 
der Anwendung die Lehre von demselben viel ausgedehnter 
und bedeutungsvoller macht. (Hirschel.) Der Herr Verfasser 
des genannten Artikels faßt aber das Verhältniß der Hydria 
tik zur Heilkunde ganz anders auf. Er behauptet nämlich, 
„daß Wasserkur und Heilkunde nach ihren bishe 
rigen Begriffen zwei von einander sehr verschie 
dene Dinge sind und daß am wenigsten die Was 
ser-, überhaupt die Naturheilkunde ein Theil 
der allgemeinen bisherigen Medicinheilkunde ge 
nannt werden kann. Das ist nun ein Irrthum ganz 
entschiedener Art. Mag der betr. Verfasser unter Medicin 
heilkunde die „Heilmittellehre", die „Therapie", 
oder die „Medicin überhaupt" verstehen, mag er die 
Zuträglichkeit der Arzneien unbedingt ausschließen, mag er 
über das Wesen der Krankheiten und die Wirkungen des 
Wassers ans den Organismus ganz neue und ganz eigen 
thümliche Anschauungen haben, er wird doch bald zu der 
Ueberzeugung kommen, daß das Wasser- oder überhaupt das 
sog. Naturheilverfahren, wie jede andere Heilmethode, der 
Medicin untergeordnet, und ihren höheren Gesetzen unterwor 
fen ist. 
Der Herr Verfasser schlägt sich selbst in jeder Zeile, die 
er schreibt, — denn er beweist überall nur zu deutlich, daß 
es ihm unmöglich ist, sich außerhalb der Grenzen der Heil 
kunde zu bewegen. — Der Vergleich mit Christenthum und 
orthodoxer Theologie scheint mir zu hinken; denn ich glaube, 
daß sowohl die orthodoxe, als auch die rationale Theologie 
im Christenthume wurzeln 4 5 ), daß beide zum Bereiche derselben 
gehören, eben so wie das Arznei- und das Naturheilverfah 
ren im Umfange der gesammten Heilkunde liegen^). 
3) Daß die Regeln der Anwendung des Wassers in Krankheiten, 
wie sie jetzt in Naturheilanstalten gäng und gäbe sind, nicht von der 
Allopathie und ihren Doctrinen herrühren, sondern in der Hauptsache 
noch dieselben sind, welche Prießnitz und Schroth rc. ausgestellt haben, 
bemerkten wir schon oben in Note 1; die Modificationen, welche sich 
als wünschenswerth aufdrängten, wurden für diese Formen, wenigstens 
was die Prießnitz'schen anlangt, hauptsächlich durch Rausse und Munde 
eingeführt und sind und bleiben wohl lange noch die werthvollsten. 
Wenigstens hat sich uns die Ansicht mehr und mehr aufgedrängt, daß, 
spätere sehr wissenschaftliche „pHysiatrische" Arbeiten, deren Ver 
fasser mehr als einmal die Behauptung selbst aufstellten, „erst dadurch 
der Sache eine wahre Begründung gegeben zu haben", in praxi eben 
sowenig zu verwerthen waren, als die neuere Cellular - Pathologie 
und ähnliche wissenschaftliche Fortschritte für die „Arzneianwendung" 
praktischen Werth haben können. Die Red. 
4 ) Wenn das Charakteristische des wahren Christenthums die „Liebe 
zum Nächsten" ist, so dürfte die aus sophistischen Grübeleien, theils phi 
lologischer, theils philosophischer Art entstandene orthodoxe Theologie, . 
welche schon so oft zur Verfolgung der Nebenmenschen, selbst mit Feuer, # 
Schwert und Qualen aller Art, gegriffen hat, denn doch nicht so leicht, 
als „im wahren Christenthume wurzelnd" bezeichnet werden können. 
5 ) Die neue und die alte Zeit oder Fortschritt und Vergangen 
heit liegen allerdings auch irrt Umfange der Gesammtentwickelnng der 
Menschheit und doch, welche schroffe Gegensätze im Einzelnen zwischen 
ihnen! Ptolemäisches Weltsystem und Copernikanische Anschauung 
sind freilich beide Kinder der allgemeinen Astronomie; es haben aber 
nichtsdestoweniger die Copernikanischen Ideen sich so von denen der älteren
	        
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