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wirken. Sind die Beschwerden vorüber, so geht man wieder
vorsichtig vorwärts. Erkältungen sind überhaupt streng zu
meiden, geeignete Wasserproceduren schützen am besten dagegen.
Entstehende Durchfälle müssen ebenfalls sorgfältig überwacht
werden.
Die Milchkur paßt vorzüglich für schwindsüchtige, blut
leere und geschwächte Personen überhaupt, denn sie bietet das
jenige Nahrungsmittel dar, welches die Bildungsfähigkeit (das
Plasma) des Blutes am meisten befördert und die Verdau
ungsorgane im Ganzen am wenigsten belästigt, ja diese, wenn
sie, wie meistens der Fall, zugleich geschwächt sind, wieder
Kraft gewinnen läßt. Obgleich in Bezug auf die Lungen
schwindsucht nur das erste (?) Stadium derselben einer wirk
samen Behandlung fähig ist, so hat doch auch die Milchdiät
für die späteren Zeiträume der Krankheit Werth, insofern sie
eine möglichst reizlose und doch kräftige Nahrung liefert; ja
einige Aerzte wollen auch dann noch von ihr günstige Heilre
sultate gehabt haben.
Für die Wasserkur paßt die Milchdiät in vielen Fällen
ganz vorzüglich, so namentlich bei chronischen Krankheiten der
Unterleibsorgane und überhaupt überall, wo es auf schwächere
Nahrungszufuhr ankommt. Nur der Ansang ist bei dieser
Diät etwas schwer, der Magen sträubt sich Anfangs bei gar
vielen Patienten dagegen, es bedarf daher einer sehr sorgfäl
tigen, genauen und allmäligen Einleitung der Kur. Häufig
mag der schlechte Erfolg an der Milch selbst liegen, die, we
nigstens in größeren Städten, hinsichtlich ihrer Qualität viel
zu wünschen übrig läßt. Für die nöthige (?) Verdünnung
mit Wasser (!) sorgen die Milchhändler zwar schon, allein sie
gießen auch eine Menge Milch durch einander, wenn sie auch
keine anderen Beimischungen vornehmen; (denn das angebliche
Zusetzen von Abkochungen des Hafergrütze, des Reises, Meh
les, der Stärke, oder wohl gar von Hammelgehirn ist gewiß
Fabel) Die Milch muß längere Zeit stehen, ehe sie zum
Verkaufe gelangt, wird auch öfters durchgearbeitet, um den
Rahm zu vertheilen, und kommt auf diese Weise vielfach mit
der Luft in Berührung, wodurch sie bedeutend leidet und na
mentlich säuert, gegen welchen Umstand wieder der, jedoch un
schädliche, Zusatz von Soda Schutz bieten muß. Eine ordent
liche Milchkur ist daher in größeren Städten gar nicht aus
führbar, sondern kann nur Vortheilhast auf dem Lande vor
genommen werden, und wenn hier die Patienten nicht gut
beaufsichtigt werden können, so geschehen im Anfange Fehler
über Fehler, und die Folge ist, daß sie die Kur sehr bald
aufgeben, weil sie ihnen nicht bekommt. Daher mehren sich
die Vorürtheile gegen den ausschließlichen, kurmäßigen Gebrauch
der Milch. Statt deren greift man lieber zu den Molken,
die in neuester Zeit zum Kurgebrauche wieder sehr Mode ge
worden sind. Allein die Molken find nicht, oder nur im
höchsten Grade schwach nährend, daher zum ausschließlichen
Nahrungsmittel gar nicht zu benutzen; sie enthalten nichts,
als den Zucker und die Salze der Milch und find eigentlich
ein Material, welches zu einer Diätkur gar nicht paßt, wel
ches zu Kuren überhaupt ganz überflüssig ist. Von Wirkung,
außer allenfalls Erleichterung der Leibesöffnung find sie
7 ) Wir schließen uns der Abmahnung vom Molkengebrauche ent
schieden an; es sind uns Fälle bekannt, wo durch die fortgesetzte An
wendung dieses ebenso mittels seines Zuckergehaltes zu Säurebildun
gen, wie dnrch die warme Form, in der es genossen wird, zu Ersch af-
fungen und Erlahmungen der Sch eimhaut des Verdaucanals führen
den Getränkes nach und nach Zerstörungen dieser Schleimhaut herbei
geführt wurden, welche mit den: schmerzhaftesten Tode endeten D. R.
durchaus nicht und dabei ein fades, fast Ekel erregendes Ge
tränk. Man begreift nicht recht, wie Aerzte (!) auf Molken
etwas geben können, ja man muß beklagen, daß dabei so
viel schöne Milch unnütz vergeudet wird! Indessen — es ist
Mode! Aber ein „geborener Schweizer aus Appenzell" oder
Gott weiß, woher (aus dem nächsten Dorfe), muß dabei sein,
denn nur ein solcher versteht es, Molken zu bereiten (!)
Zum Fortschritt.
Von Baptista Vanoni in München.
Gewisse Zeitumwandlungen und politische Bewegungen
bringen auch gewisse Begriffsbezeichnungen und Worte hervor,
die allwärts „gäng und gebe" werden und sich bis zur Mode
erheben.
Nun giebt es aber bekanntlich unvernünftige und ver
nünftige Moden, und die große Masse der Gesellschaft ahmt
in der Regel ohne geringste Ueberlegung die Moden derer
nach, die man als die Vornehmen bezeichnet, und macht
sich nicht selten hierdurch lächerlich.
Gegenwärtig hört man in Politik und in Wissenschaft
allerwärts das Wort ^Fortschritt", ja, spricht sogar von einer
Fortschritts-Part hei Unsere Aufgabe ist zunächst, vom
Fortschritt in der Heilkunde zu sprechen und zu be
trachten, inwiefern diese Wissenschaft in neuerer und neuester
Zeit „Fortschritt" gemacht hat?
In der praktischen Heilkunde besteht seit den letzten vier
Decennien ein Fortschritt, der sehr relativ ist, ein Fortschritt
in der Rückkehr von dem gelehrten Hirngespinnste, „Hypo
these" genannt, zur Natur, ein Fortschritt, der also mit den
Naturwissenschaften Hand in Hand geht und den wir inso
fern anerkennen und begünstigen, als damit die alte Heil
kunde von ihren Verirrungen abzustehen und auf die Grund
sätze der Natur und der Vernunft zurückzuführen begon
nen hat.
Es geben bereits hervorragende Männer der Heilwissen
schaft offenherzig zu: daß Prießnitz und Schroth die
Männer der medicinischen Reformation find, und sie bauten
auf die Grundlage, auf das Princip dieser beiden Naturärzte,
die zwar keine Professoren, aber große Denker waren und
durch welche freilich die alte Physiologie und Pathologie so
viel als unbrauchbar geworden find.
Nun ist es aber in dieser wissenschaftlichen Revolution
gerade so wie in der Politik gegangen; man lief Gefahr,
durch die naheliegende Ueberstürzung, durch Extreme und
Extravaganzen (wie wir dies zunächst auch bei specifischen
Wasser- und Schroth'schen Kuren vielfältig erfahren haben,
die von Aerzten und Laien ausgeübt wurden, welchen es nicht
um den Kern und Geist der Sache, sondern Mehr um die
Speculation zu thun war) um die eigentlichen Früchte des
Fortschritts zu kommen x es litt leider die gute Sache oft
Schaden, und der wahre Fortschritt für des Volkes Heil-
wissenschaft sah sich oft gehemmt
Wenn wir nun doch von „Rückkehr zur Natur" in der
Heilwissenschaft als Fortschritt sprechen, so ist selbstverständ
lich nicht der Standpunkt der rohen Empirie damit gemeint,