Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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wirken. Sind die Beschwerden vorüber, so geht man wieder 
vorsichtig vorwärts. Erkältungen sind überhaupt streng zu 
meiden, geeignete Wasserproceduren schützen am besten dagegen. 
Entstehende Durchfälle müssen ebenfalls sorgfältig überwacht 
werden. 
Die Milchkur paßt vorzüglich für schwindsüchtige, blut 
leere und geschwächte Personen überhaupt, denn sie bietet das 
jenige Nahrungsmittel dar, welches die Bildungsfähigkeit (das 
Plasma) des Blutes am meisten befördert und die Verdau 
ungsorgane im Ganzen am wenigsten belästigt, ja diese, wenn 
sie, wie meistens der Fall, zugleich geschwächt sind, wieder 
Kraft gewinnen läßt. Obgleich in Bezug auf die Lungen 
schwindsucht nur das erste (?) Stadium derselben einer wirk 
samen Behandlung fähig ist, so hat doch auch die Milchdiät 
für die späteren Zeiträume der Krankheit Werth, insofern sie 
eine möglichst reizlose und doch kräftige Nahrung liefert; ja 
einige Aerzte wollen auch dann noch von ihr günstige Heilre 
sultate gehabt haben. 
Für die Wasserkur paßt die Milchdiät in vielen Fällen 
ganz vorzüglich, so namentlich bei chronischen Krankheiten der 
Unterleibsorgane und überhaupt überall, wo es auf schwächere 
Nahrungszufuhr ankommt. Nur der Ansang ist bei dieser 
Diät etwas schwer, der Magen sträubt sich Anfangs bei gar 
vielen Patienten dagegen, es bedarf daher einer sehr sorgfäl 
tigen, genauen und allmäligen Einleitung der Kur. Häufig 
mag der schlechte Erfolg an der Milch selbst liegen, die, we 
nigstens in größeren Städten, hinsichtlich ihrer Qualität viel 
zu wünschen übrig läßt. Für die nöthige (?) Verdünnung 
mit Wasser (!) sorgen die Milchhändler zwar schon, allein sie 
gießen auch eine Menge Milch durch einander, wenn sie auch 
keine anderen Beimischungen vornehmen; (denn das angebliche 
Zusetzen von Abkochungen des Hafergrütze, des Reises, Meh 
les, der Stärke, oder wohl gar von Hammelgehirn ist gewiß 
Fabel) Die Milch muß längere Zeit stehen, ehe sie zum 
Verkaufe gelangt, wird auch öfters durchgearbeitet, um den 
Rahm zu vertheilen, und kommt auf diese Weise vielfach mit 
der Luft in Berührung, wodurch sie bedeutend leidet und na 
mentlich säuert, gegen welchen Umstand wieder der, jedoch un 
schädliche, Zusatz von Soda Schutz bieten muß. Eine ordent 
liche Milchkur ist daher in größeren Städten gar nicht aus 
führbar, sondern kann nur Vortheilhast auf dem Lande vor 
genommen werden, und wenn hier die Patienten nicht gut 
beaufsichtigt werden können, so geschehen im Anfange Fehler 
über Fehler, und die Folge ist, daß sie die Kur sehr bald 
aufgeben, weil sie ihnen nicht bekommt. Daher mehren sich 
die Vorürtheile gegen den ausschließlichen, kurmäßigen Gebrauch 
der Milch. Statt deren greift man lieber zu den Molken, 
die in neuester Zeit zum Kurgebrauche wieder sehr Mode ge 
worden sind. Allein die Molken find nicht, oder nur im 
höchsten Grade schwach nährend, daher zum ausschließlichen 
Nahrungsmittel gar nicht zu benutzen; sie enthalten nichts, 
als den Zucker und die Salze der Milch und find eigentlich 
ein Material, welches zu einer Diätkur gar nicht paßt, wel 
ches zu Kuren überhaupt ganz überflüssig ist. Von Wirkung, 
außer allenfalls Erleichterung der Leibesöffnung find sie 
7 ) Wir schließen uns der Abmahnung vom Molkengebrauche ent 
schieden an; es sind uns Fälle bekannt, wo durch die fortgesetzte An 
wendung dieses ebenso mittels seines Zuckergehaltes zu Säurebildun 
gen, wie dnrch die warme Form, in der es genossen wird, zu Ersch af- 
fungen und Erlahmungen der Sch eimhaut des Verdaucanals führen 
den Getränkes nach und nach Zerstörungen dieser Schleimhaut herbei 
geführt wurden, welche mit den: schmerzhaftesten Tode endeten D. R. 
durchaus nicht und dabei ein fades, fast Ekel erregendes Ge 
tränk. Man begreift nicht recht, wie Aerzte (!) auf Molken 
etwas geben können, ja man muß beklagen, daß dabei so 
viel schöne Milch unnütz vergeudet wird! Indessen — es ist 
Mode! Aber ein „geborener Schweizer aus Appenzell" oder 
Gott weiß, woher (aus dem nächsten Dorfe), muß dabei sein, 
denn nur ein solcher versteht es, Molken zu bereiten (!) 
Zum Fortschritt. 
Von Baptista Vanoni in München. 
Gewisse Zeitumwandlungen und politische Bewegungen 
bringen auch gewisse Begriffsbezeichnungen und Worte hervor, 
die allwärts „gäng und gebe" werden und sich bis zur Mode 
erheben. 
Nun giebt es aber bekanntlich unvernünftige und ver 
nünftige Moden, und die große Masse der Gesellschaft ahmt 
in der Regel ohne geringste Ueberlegung die Moden derer 
nach, die man als die Vornehmen bezeichnet, und macht 
sich nicht selten hierdurch lächerlich. 
Gegenwärtig hört man in Politik und in Wissenschaft 
allerwärts das Wort ^Fortschritt", ja, spricht sogar von einer 
Fortschritts-Part hei Unsere Aufgabe ist zunächst, vom 
Fortschritt in der Heilkunde zu sprechen und zu be 
trachten, inwiefern diese Wissenschaft in neuerer und neuester 
Zeit „Fortschritt" gemacht hat? 
In der praktischen Heilkunde besteht seit den letzten vier 
Decennien ein Fortschritt, der sehr relativ ist, ein Fortschritt 
in der Rückkehr von dem gelehrten Hirngespinnste, „Hypo 
these" genannt, zur Natur, ein Fortschritt, der also mit den 
Naturwissenschaften Hand in Hand geht und den wir inso 
fern anerkennen und begünstigen, als damit die alte Heil 
kunde von ihren Verirrungen abzustehen und auf die Grund 
sätze der Natur und der Vernunft zurückzuführen begon 
nen hat. 
Es geben bereits hervorragende Männer der Heilwissen 
schaft offenherzig zu: daß Prießnitz und Schroth die 
Männer der medicinischen Reformation find, und sie bauten 
auf die Grundlage, auf das Princip dieser beiden Naturärzte, 
die zwar keine Professoren, aber große Denker waren und 
durch welche freilich die alte Physiologie und Pathologie so 
viel als unbrauchbar geworden find. 
Nun ist es aber in dieser wissenschaftlichen Revolution 
gerade so wie in der Politik gegangen; man lief Gefahr, 
durch die naheliegende Ueberstürzung, durch Extreme und 
Extravaganzen (wie wir dies zunächst auch bei specifischen 
Wasser- und Schroth'schen Kuren vielfältig erfahren haben, 
die von Aerzten und Laien ausgeübt wurden, welchen es nicht 
um den Kern und Geist der Sache, sondern Mehr um die 
Speculation zu thun war) um die eigentlichen Früchte des 
Fortschritts zu kommen x es litt leider die gute Sache oft 
Schaden, und der wahre Fortschritt für des Volkes Heil- 
wissenschaft sah sich oft gehemmt 
Wenn wir nun doch von „Rückkehr zur Natur" in der 
Heilwissenschaft als Fortschritt sprechen, so ist selbstverständ 
lich nicht der Standpunkt der rohen Empirie damit gemeint,
	        
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