Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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instinktlose Mensch will gescheidter sein, als seine Mutter: die 
Natur! die ihm längst nicht mehr genügt, mit der er deshalb 
auch überall einen kurzen Proceß macht, ihr den Rücken kehrt, 
nicht ihren Winken lauschen und ihren Gesetzen folgen, son 
dern sich vielmehr anmaßen will, sie zu „bemustern", zu 
„maßregeln". Er mag nicht, wie alle übrigen Geschöpfe, un 
mittelbar aus ihren Brüsten seine Nahrung ziehen, weil ihm 
die schlimme Mamma nur „Rohproducte" auftischt, die er 
folglich erst durch Kochen, Braten, durch Gährung, Destilla 
tion u. s. w. „genußfähig" machen muß. Um mit solch' einer 
Rabenmutter nichts mehr zu thun zu haben, hat der grübelnde 
Menschenverstand endlich die „Civilisation" erfunden, wodurch 
er sich von der „rohen Natur" gerne völlig trennen und 
emancipiren möchte, dabei aber freilich immer die Rechnung 
ohne den Wirth macht. Allerdings kein Wunder, wenn dann 
die schwerbeleidigte Mamma ihre ungerathenen Kinder ebenfalls 
stiefmütterlich behandelt und die „civilisirte Menschheit" mit 
einer Unzahl Krankheiten geißelt und zu Paaren treibt. 
Daß sich aber solch' ein superkluger Verstand nicht nur der 
gewöhnlichen Menschen, sondern auch der Herren Aerzte (und 
namentlich der Medicinärzte) bemächtigt hat, das lehrt uns 
sattsam ihre Allopathie, Homöopathie, Hydropathie und die 
hunderterlei anderen Kurmethoden, obgleich es vernünftiger 
und natürlicherweise nur Ein richtiges und wahres Heilsy 
stem und Heilverfahren geben kann. Die Thiere ^gleicher 
Gattung) folgen immer und überall einem und demselben In 
stinkte, sie irren sich daher nicht so, wie die Menschen und 
deren Aerzte , von denen beiden es sprüchwörtlich geworden: 
„Viel Köpfe, viel Sinne!" Daher die große Gleichmäßigkeit 
und Uebereinstimmung der Thiere in Größe, Gestalt und Le 
bensdauer und das Gegentheil unter den Menschen! Hieraus 
folgt, daß die Vorzüge des menschlichen Verstandes, wie oben 
erwähnt, nur geistiger Natur sind, und daß der Jnstinct durch 
den Verstand niemals vollkommen ersetzt werden kann, zumal 
der Mensch nicht blos ein geistiges, sondern dem Körper nach 
ein rein animalisches Wesen, und als solches in seinen irdi 
schen Lebensfunctionen mit dem Thierleben an dieselben Na 
turgesetze gebunden ist. Darum ist und handelt das kranke 
Thier stets vernünftiger (naturgemäßer), als der geschickteste 
Arzt, dem doch sein Verstand und seine Gelehrsamkeit (also 
sogar potenzirter Verstand) zu Gebote steht. Indem Ersteres 
mit Ruhe und Gelassenheit (instinktmäßig) seine Wunde leckt 
und so ohne alle Umstände der sicheren Heilung zuführt, muß 
hingegen ein Chirurg immer, wenn schon nicht eine „Ampu 
tation", so doch irgend eine mehr oder weniger grausame und 
schmerzvolle „Operation" ausführen. Was aber bei Verwun 
dungen von Chirurgen, gilt in ganz gleicher Weise bei inne 
ren Krankheiten von den Medicin-Doctoren. Bei Beiden 
wäre somit im Interesse der Patienten etwas weniger „Ver 
stand" und mehr „Instinkt" wünschenswerth! — 
Nachdem ich im Vorstehenden die Geduld des „Natur 
arztes" einer Harten Probe unterzogen, ersuche ich denselben 
schließlich, sich mit mir noch zu dem Krankenbette meiner Toch 
ter Marie gütigst zu begeben, die wir ja im stärksten Schar 
lachfieber verlassen haben. Die Arme lag 11 Tage und eben 
so viel Nächte ganz bewußtlos (nur oft delirirend), ohne ir 
gend eine Nahrung zu sich zu nehmen, welche ihr auch schon 
deshalb nicht beizubringen möglich war, weil sie nichts ver 
schlingen konnte. Wir harrten jeden Augenblick ihres Ver 
scheidend, weil sie augenscheinlich weit mehr angegriffen war, 
als ihre kleinen, verstorbenen Brüder, weshalb sie auch Arzt 
und Laien längst aufgegeben hatten. Es wurden indeß alle 
möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen, und das Mädchen 
Tag und Nacht von nachbarlichen Teilnehmenden bewacht. 
Denn die Mutter lag selbst auf dem Schmerzenslager, und 
ich bei meiner ohnehin sehr schwächlichen Gesundheit konnte 
das Wachen natürlich nicht lange aushalten. 
Am 12. Tage nun trat das Bewußtsein und mit die 
sem Verlangen nach Stärkung wieder ein, aber es hatte 
große Schwierigkeiten, dem Mädchen etwas beizübrigen, denn 
die inneren Schleimhäute waren ganz zerstört und in Schleim 
verwandelt; dieser verstopfte ihr Mund und alle Nahrungs 
wege der Art, daß sie nur sehr mühsam und kaum verständ 
lich durch die Nase sprechen und auch nur mit gleicher An 
strengung die Stärkung zu sich nehmen konnte; indeß man 
sah doch, daß sie der Besserung zuschritt und sich bereits auch 
zu „schuppen" anfing, so daß die Hoffnung auf ihre Erhal 
tung wieder angeregt wurde. Sobald sie sich nun von dem 
verstopfenden Schleime einigermaßen gereinigt hatte und etwas 
verständlicher sprechen konnte, da versuchte man, sie über Die 
ses und Jenes auszufragen, aber — o Schrecken! — eine 
neue entsetzliche Wahrnehmung: sie kann wohl schon ziemlich 
ihre eigenen Bedürfnisse äußern, aber auf Befragen giebt sie 
keinerlei Zeichen eines Verständnisses oder auch nur eines ent 
sprechenden Eindruckes, man schreit in sie hinein, sie hört und 
versteht aber nicht, mit einem Worte, sie ist — stocktaub. 
Jetzt nahm sich auch der Doctor alle — freilich nur allo 
pathische — Mühe, um mir wenigstens mein letztes Kind zu 
erhalten (deren er bei gewissenhafterer Pflichterfüllung wahr 
scheinlich alle erhalten konnte), was auch seiner Bemühung 
und bei der sorgfältigsten Pflege der Patientin einstweilen ge 
lang. Von da an wurde das Scharlach epidemisch und ver 
schlang im Orte gegen 30 Opfer. Man sagt, daß das Schar 
lach äußerst ansteckend. Dagegen muß ich Folgendes anfüh 
ren : Die Frau, die fortwährend am Bette meiner Kinder saß, 
sie bis zum Tode bediente, sodann ihre Leichen wusch und 
anzog, hat 4 Kinder im Alter von 2-10 Jahren, mit denen 
sie einen beständigen Verkehr unterhielt und ihrem kleinen Kna 
ben sogar das Kleidchen eines der Verstorbenen anziehen ließ; 
doch keines dieser Kinder wurde angesteckt, während die Krank 
heit meist die Kinder solcher Häuser heimsuchte, die sich am 
meisten abgesperrt und jeden Verkehr mit der Außenwelt ge 
mieden hatten. Bei mir scheinen allerdings die größeren Kin 
der von dem kleineren, zuerst verstorbenen Knaben angesteckt 
worden zu sein. Wie aber oder woher dieser arme Knabe, 
der bei der damaligen rauhen Witterung wochenlang nicht 
aus der Stube kam, sich den Scharlach zuzog, wird wohl nie 
aufgehellt werden. — Nach 6 Wochen war unser Mädchen 
zum ersten Male aus dem Bette aufgestanden und nach drei 
Monaten schien sie nicht nur völlig wieder hergestellt zu sein, 
sondern sie entwickelte eine solche Körperfülle, wie sie solche 
vor der Krankheit niemals besessen. Nachdem die Ohren öf 
ters und abwechselnd mit lauem Wasser und Oel ausgespritzt 
worden waren, kehrte auch das Gehör vollständig wieder zurück. 
Dieses blühende Aussehen dauerte jedoch nur wenige 
Wochen, hernach stellten sich wieder Kopfschmerzen ein, das 
Gehör schwand abermals und aus den Ohren floß eine 
stinkende Jauche. Dieser Zustand ist seitdem wiederholt auf 
getreten und wieder verschwunden, hat aber auch zuweilen 
sehr bedeutende Krankheitserscheinungen im Gefolge. So 
wurde zu Anfang dieses Jahres ein langwieriges gastrisches 
Uebel mit langen Stuhlanhaltungen kaum einigermaßen be 
kämpft, und das letzte Mal erkrankte das Mädchen vor 2 
Monaten abermals schwer, wobei sie auch das Gehör wieder
	        
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