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instinktlose Mensch will gescheidter sein, als seine Mutter: die
Natur! die ihm längst nicht mehr genügt, mit der er deshalb
auch überall einen kurzen Proceß macht, ihr den Rücken kehrt,
nicht ihren Winken lauschen und ihren Gesetzen folgen, son
dern sich vielmehr anmaßen will, sie zu „bemustern", zu
„maßregeln". Er mag nicht, wie alle übrigen Geschöpfe, un
mittelbar aus ihren Brüsten seine Nahrung ziehen, weil ihm
die schlimme Mamma nur „Rohproducte" auftischt, die er
folglich erst durch Kochen, Braten, durch Gährung, Destilla
tion u. s. w. „genußfähig" machen muß. Um mit solch' einer
Rabenmutter nichts mehr zu thun zu haben, hat der grübelnde
Menschenverstand endlich die „Civilisation" erfunden, wodurch
er sich von der „rohen Natur" gerne völlig trennen und
emancipiren möchte, dabei aber freilich immer die Rechnung
ohne den Wirth macht. Allerdings kein Wunder, wenn dann
die schwerbeleidigte Mamma ihre ungerathenen Kinder ebenfalls
stiefmütterlich behandelt und die „civilisirte Menschheit" mit
einer Unzahl Krankheiten geißelt und zu Paaren treibt.
Daß sich aber solch' ein superkluger Verstand nicht nur der
gewöhnlichen Menschen, sondern auch der Herren Aerzte (und
namentlich der Medicinärzte) bemächtigt hat, das lehrt uns
sattsam ihre Allopathie, Homöopathie, Hydropathie und die
hunderterlei anderen Kurmethoden, obgleich es vernünftiger
und natürlicherweise nur Ein richtiges und wahres Heilsy
stem und Heilverfahren geben kann. Die Thiere ^gleicher
Gattung) folgen immer und überall einem und demselben In
stinkte, sie irren sich daher nicht so, wie die Menschen und
deren Aerzte , von denen beiden es sprüchwörtlich geworden:
„Viel Köpfe, viel Sinne!" Daher die große Gleichmäßigkeit
und Uebereinstimmung der Thiere in Größe, Gestalt und Le
bensdauer und das Gegentheil unter den Menschen! Hieraus
folgt, daß die Vorzüge des menschlichen Verstandes, wie oben
erwähnt, nur geistiger Natur sind, und daß der Jnstinct durch
den Verstand niemals vollkommen ersetzt werden kann, zumal
der Mensch nicht blos ein geistiges, sondern dem Körper nach
ein rein animalisches Wesen, und als solches in seinen irdi
schen Lebensfunctionen mit dem Thierleben an dieselben Na
turgesetze gebunden ist. Darum ist und handelt das kranke
Thier stets vernünftiger (naturgemäßer), als der geschickteste
Arzt, dem doch sein Verstand und seine Gelehrsamkeit (also
sogar potenzirter Verstand) zu Gebote steht. Indem Ersteres
mit Ruhe und Gelassenheit (instinktmäßig) seine Wunde leckt
und so ohne alle Umstände der sicheren Heilung zuführt, muß
hingegen ein Chirurg immer, wenn schon nicht eine „Ampu
tation", so doch irgend eine mehr oder weniger grausame und
schmerzvolle „Operation" ausführen. Was aber bei Verwun
dungen von Chirurgen, gilt in ganz gleicher Weise bei inne
ren Krankheiten von den Medicin-Doctoren. Bei Beiden
wäre somit im Interesse der Patienten etwas weniger „Ver
stand" und mehr „Instinkt" wünschenswerth! —
Nachdem ich im Vorstehenden die Geduld des „Natur
arztes" einer Harten Probe unterzogen, ersuche ich denselben
schließlich, sich mit mir noch zu dem Krankenbette meiner Toch
ter Marie gütigst zu begeben, die wir ja im stärksten Schar
lachfieber verlassen haben. Die Arme lag 11 Tage und eben
so viel Nächte ganz bewußtlos (nur oft delirirend), ohne ir
gend eine Nahrung zu sich zu nehmen, welche ihr auch schon
deshalb nicht beizubringen möglich war, weil sie nichts ver
schlingen konnte. Wir harrten jeden Augenblick ihres Ver
scheidend, weil sie augenscheinlich weit mehr angegriffen war,
als ihre kleinen, verstorbenen Brüder, weshalb sie auch Arzt
und Laien längst aufgegeben hatten. Es wurden indeß alle
möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen, und das Mädchen
Tag und Nacht von nachbarlichen Teilnehmenden bewacht.
Denn die Mutter lag selbst auf dem Schmerzenslager, und
ich bei meiner ohnehin sehr schwächlichen Gesundheit konnte
das Wachen natürlich nicht lange aushalten.
Am 12. Tage nun trat das Bewußtsein und mit die
sem Verlangen nach Stärkung wieder ein, aber es hatte
große Schwierigkeiten, dem Mädchen etwas beizübrigen, denn
die inneren Schleimhäute waren ganz zerstört und in Schleim
verwandelt; dieser verstopfte ihr Mund und alle Nahrungs
wege der Art, daß sie nur sehr mühsam und kaum verständ
lich durch die Nase sprechen und auch nur mit gleicher An
strengung die Stärkung zu sich nehmen konnte; indeß man
sah doch, daß sie der Besserung zuschritt und sich bereits auch
zu „schuppen" anfing, so daß die Hoffnung auf ihre Erhal
tung wieder angeregt wurde. Sobald sie sich nun von dem
verstopfenden Schleime einigermaßen gereinigt hatte und etwas
verständlicher sprechen konnte, da versuchte man, sie über Die
ses und Jenes auszufragen, aber — o Schrecken! — eine
neue entsetzliche Wahrnehmung: sie kann wohl schon ziemlich
ihre eigenen Bedürfnisse äußern, aber auf Befragen giebt sie
keinerlei Zeichen eines Verständnisses oder auch nur eines ent
sprechenden Eindruckes, man schreit in sie hinein, sie hört und
versteht aber nicht, mit einem Worte, sie ist — stocktaub.
Jetzt nahm sich auch der Doctor alle — freilich nur allo
pathische — Mühe, um mir wenigstens mein letztes Kind zu
erhalten (deren er bei gewissenhafterer Pflichterfüllung wahr
scheinlich alle erhalten konnte), was auch seiner Bemühung
und bei der sorgfältigsten Pflege der Patientin einstweilen ge
lang. Von da an wurde das Scharlach epidemisch und ver
schlang im Orte gegen 30 Opfer. Man sagt, daß das Schar
lach äußerst ansteckend. Dagegen muß ich Folgendes anfüh
ren : Die Frau, die fortwährend am Bette meiner Kinder saß,
sie bis zum Tode bediente, sodann ihre Leichen wusch und
anzog, hat 4 Kinder im Alter von 2-10 Jahren, mit denen
sie einen beständigen Verkehr unterhielt und ihrem kleinen Kna
ben sogar das Kleidchen eines der Verstorbenen anziehen ließ;
doch keines dieser Kinder wurde angesteckt, während die Krank
heit meist die Kinder solcher Häuser heimsuchte, die sich am
meisten abgesperrt und jeden Verkehr mit der Außenwelt ge
mieden hatten. Bei mir scheinen allerdings die größeren Kin
der von dem kleineren, zuerst verstorbenen Knaben angesteckt
worden zu sein. Wie aber oder woher dieser arme Knabe,
der bei der damaligen rauhen Witterung wochenlang nicht
aus der Stube kam, sich den Scharlach zuzog, wird wohl nie
aufgehellt werden. — Nach 6 Wochen war unser Mädchen
zum ersten Male aus dem Bette aufgestanden und nach drei
Monaten schien sie nicht nur völlig wieder hergestellt zu sein,
sondern sie entwickelte eine solche Körperfülle, wie sie solche
vor der Krankheit niemals besessen. Nachdem die Ohren öf
ters und abwechselnd mit lauem Wasser und Oel ausgespritzt
worden waren, kehrte auch das Gehör vollständig wieder zurück.
Dieses blühende Aussehen dauerte jedoch nur wenige
Wochen, hernach stellten sich wieder Kopfschmerzen ein, das
Gehör schwand abermals und aus den Ohren floß eine
stinkende Jauche. Dieser Zustand ist seitdem wiederholt auf
getreten und wieder verschwunden, hat aber auch zuweilen
sehr bedeutende Krankheitserscheinungen im Gefolge. So
wurde zu Anfang dieses Jahres ein langwieriges gastrisches
Uebel mit langen Stuhlanhaltungen kaum einigermaßen be
kämpft, und das letzte Mal erkrankte das Mädchen vor 2
Monaten abermals schwer, wobei sie auch das Gehör wieder