Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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—- daher wahrscheinlich die schweren Geburten, — und steht 
gegenwärtig im 46. Lebensjahre. Seit sie verheirathet, hatte 
sie mit mannigfaltigem, früher ungekannten und ungeahnten 
Kummer zu kämpfen, und der Verlust der lieblich schönen 
Kinder benahm ihr den letzten Rest ihrer niemals überschweng 
lichen Lebenslust, und da auch ich unter den gleichen Einflüs 
sen des Mißgeschickes vegetire und schon dieserwegen, wie 
auch in Folge eines langjährigen, sehr heiklichen Brustleidens 
ein vollendeter Hypochonder bin, so repräsentiren wir ein al 
lerliebstes Misanthropen-Paar, wie man wohl weit und breit 
kein zweites wieder finden wird. (Sie werden wohl an die 
sem offenen Geständnisse keinen Anstoß nehmen und uns darob 
nicht stiefmütterlicher behandeln). Uebrigens scheint meine 
Frau, doch erst aus letzterer Zeit, ebenfalls einen Lungende- 
fect zu besitzen. Gelegenheitlich einer diesfälligen ärztlichen 
Untersuchung sagtö der Doctor, sie habe vor einigen (etwa 3) 
Jahren, vielleicht unwissend, eine Lungenentzündung überstan 
den, — und hieran hatte er nicht so ganz unrecht. Denn 
im Jahre 1858 säugte sie, wie früher die beiden älteren 
Kinder, den kleinen Gustav, der als ein sehr starker Knabe 
auch viel Nahrung bedurfte und die Brüste immer so aussog, 
daß die Frau darob oft starke Schmerzen empfand. Eines 
Tages im Sommer hatte die Frau aus dem Felde zu thun, 
wo sie sich zu lange verhielt und alsdann mit Hast dem Hause 
zueilte, um dem Kinde die langentbehrte Brust zu reichen, 
wobei sie sich allzusehr echauffirte. Tags darauf hustete sie 
aber Blut aus, und mußte auf ärztliche Anordnung das 
Säugegeschäft sogleich aufgeben, was übrigens, da das Kind 
etwa 5 Monate alt war, für Mutter und Kind ziemlich gut 
ablief. Dies war nun wahrscheinlich die überstandene Lun 
genentzündung, die von uns unglücklicher, vom Arzte aber un 
geschickter und leichtsinniger Weise (?) gar nicht weiter be 
achtet und behandelt wurde, als deren Folgen sich jetzt 
Husten (meist trocken), Brustschmerz, übler Athemge 
ruch u. s. w. manifestiren, und, mit dem Fußübel combinirt, 
leicht unheilvoll werden könnten. Im Gesichte sieht die Frau 
übrigens ganz gut (d i. nicht krankhaft) aus, ist aber in 
Folge des allzustarken Blutverlustes bei den künstlichen Ent 
bindungen u. s. w. sehr abgemagert und schwächlich und lei 
det zuweilen auch an Kopf stechen. Ihre Augen haben seit 
einem Jahre die früher so ausgezeichnete Sehkraft stark 
eingebüßt, so daß sie sich nunmehr zum Lesen der Brillen be 
dienen muß. Das blonde Haar ist nur schütter (?) und ver- 
hältnißmäßig kurz. Die sonstigen Lebenssunctionen, als Stuhl, 
Menstruation, Schlaf re. sind normal*). — Was nun? Die 
allopathische Kunst ist erschöpft, ohne etwas ausgerichtet, we 
nigstens ohne vollständige Heilung gebracht zu haben. Sich 
auf die Naturheilkunde verlegen, ist ebenfalls äußerst mißlich 
(ohne Anleitung) für Jeden, der nicht eine Naturheilanstalt 
besuchen kann, was eben bei mir aus pecuniären Gründen 
nicht angeht. Zwar behauptet sowohl Ihr „Naturarzt", als 
auch Jeder, der über die Naturherlkunde schreibt, daß dieselbe 
nicht blos ein Privilegium der gelehrten Männer, sondern Je 
dem zugänglich ist, der ein Freund der Natur ist und einen 
guten Willen dazu hat. Die Thatsachen beweisen aber gar 
oft gerade das Gegentheil. Man wird doch bei Jedem, der 
sich z. B. zu einer Wasserkur entschließt, eine Vorliebe hiezu 
und ebenfalls guten Willen voraussetzen. Und doch, welch' 
grasse Mißerfolge gehen oft aus solchen Laienkuren hervor, 
was dann immer auf Rechnung der dabei von dem Patienten 
*) Frage d. Ned. Wie stand und steht es mit der Fußwarme? 
gemachte Mißgriffe und verletzten Principien geschoben wird. 
Und da liegt eben der Hund begraben, daß der Laie trotz des 
besten Willens fast immer Mißgriffe macht und die Principien 
verletzt. So muß auch ich es beklagen, daß zunächst nur 
durch den unzeitgemäßen oder unrichtigen, obgleich ärztlich 
anbefohlenen und geleiteten Gebrauch des kalten Wassers die 
großen Verheerungen am Fuße meiner Frau hervorgerufen 
wurden, wie sich denn auch nach bereits angerichtetem Unheil 
das Urtheil aller Anwesenden dahin geeinigt hatte, daß ein 
Rothlauf niemals auf naßkaltem Wege, sondern durch warme 
Breiumschläge rc. behandelt werden müsse. Hier fällt mir 
unwillkürlich eine kürzlich erschienene Broschüre ein, die den 
pömpösen Titel führt: „Die Kunst, 100 Jahre alt zu wer 
den" und welche ich mir aus Curiosität verschrieb, da dieselbe 
für nur wenige Kreuzer zu beziehen war und ist. Welche 
Wundermittel oder Geheimnisse enthält nun diese kostbare 
Broschüre, die doch gewiß nur zur Beglückung der kurzlebigen 
Menschheit veröffentlicht wurde? Dieselbe ergeht sich zunächst 
in der erbaulichen Betrachtung, daß es weder unmöglich noch 
ungewöhnlich ist, ein Alter von 100 Jahren zu erreichen, und 
folgert dann mit wunderbar naivem Ernste, daß man, um die 
ses ferne Ziel zu erlangen, gar nichts Anderes zu thun habe, 
als nur mäßig und „naturgemäß" zu leben; das Andere 
mache sich dann schon von selbst. Denn es sei in der Natur 
begründet, daß die ganze Lebenszeit des Menschen gleich jener 
der Säugethiere etwa das Fünffache der Wachsthumsperiode 
ausmache, daher sich die normale Lebenszeit des Menschen? 
der durchschnittlich 20 Jahre wächst, schon naturgemäß auf, 
ja selbst über 100 Jahre herausstellt." 
Welcher Sterbliche vermöchte den menschenfreundlichen 
Verfasser der Broschüre ob seiner großen Thesen Lügen zu 
strafen oder auch nur den leisesten Einwand dagegen zu er 
heben? Auch vor dem Forum des „Naturarztes" werden 
seine Grund- und Lehrsätze sicherlich und jederzeit die Feuer 
probe ertragen. Und doch entsteht die große Frage, wie sich 
denn eigentlich der Segen seiner gewiß wohlmeinenden Bro 
schüre geltend machen solle. Die wenigen Glücklichen, welchen 
die Mutter Natur einen festen, gesunden Körper und damit 
ein nahezu 100 jähriges oder gar noch längeres Leben ver 
stattet, haben dieses lange Leben gewiß ohne alles Zuthun 
noch Verschulden des Verfassers erreicht, während die unge 
heuere Mehrzahl nicht nur siecher, sondern auch ganz gesunder 
Menschen, deren Organismus jedoch so zu sagen schon ur 
sprünglich auf eine so ausnahmsweise lange Dauer nicht an 
gelegt wurde, — und darunter gewiß sehr viele rüstige und 
auch nicht naturwidrig lebende Leute, — trotz der Brochüre 
und ihres philantropischen Herrn Verfassers sich nolens volens 
mit einer viel kürzeren Lebensdauer werden begnügen müssen, 
und zwar hauptsächlich darum, weil es dem Herrn Ver 
fasser nicht beliebte, den Begriff „naturgemäß" näher 
zu definiren, ja weil er dieses geradezu nicht vermochte. /Denn 
die heutige Menschheit hat wohl kaum Ein Individuum auf 
zuweisen, welches sich einer wirklich naturgemäßen Lebensweise 
erfreuen könnte. In dieser Beziehung steht der Mensch, ob 
gleich „Herr der Schöpfung", seinen Mitgeschöpfen, den Thie 
ren gegenüber, in gewaltigem Nachtheile. Das Thier allein, 
durch seinen Instinkt geleitet, lebt vollkommen naturgemäß 
und befindet sich dabei wohl, weil auch sein Zustand ein na 
turgemäßer, ein behaglicher ist. Der Mensch bekam zwar für 
den Instinkt etwas Höheres, Erhabeneres, Geistigeres, d. i. 
den Verstand, aber leider Gott! man sehe nur, wo ihn denn 
eigentlich sein Verstand hinführt?! Der „verständige" und
	        
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