Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Nun erst wurde den kranken Kindern alle mögliche Sorg 
falt zugewendet, doch ließ uns vornehmlich der sehr schlimme 
Zustand des Mädchens für dessen Leben zittern; es machte 
uns auch weit mehr als der Knabe zu schaffen, indem es in 
seiner Bewußtlosigkeit und glühenden Hitze die Federbetten 
(bei einer steten Zimmertemperatur von 18 — 20° R.) un 
aufhörlich von sich stieß und sich beständig entblößte, während 
der kluge und augenscheinlich weit weniger leidende Knabe die 
ihm auferlegten Maßregeln von selbst gutwillig und pünktlich 
befolgte So verging der 8. und 9. December, an welch' 
letzterem Tage der kleine Gustav zur Erde bestattet wurde. 
Die Nacht vom 9. auf den 10. brachte ein neues Verhäng- 
niß: Meine Frau, welche zu noch größerem Unglück am Ende 
des achten Monats schwanger war und in den vorherigen 2 
Nächten sehr wenig schlief, hielt dennoch wieder bis 12 Uhr 
die Nachtwache, während welcher sie mit Rudolph fortwährend 
vertraulich und fast gemüthlich plauderte, bis dieser endlich 
gegen Mitternacht einschlief. Hierauf löste ich die Frau im 
Nachtwachen ab, und letztere begab sich zu Bette, sofort in 
einen tiefen und festen Schlaf versinkend. Der Knabe schlief 
noch etwa 2 Stunden ganz ruhig. 
Da bemerkte die mit mir wachende Nachbarin, daß der 
Knabe im Schlafe unruhig wird, sie tritt an ihn heran, und 
bedeutet mir, nach dem Arzt zu schicken, da ihr der Knabe nicht 
gefalle. Ich zögerte, da ich den sehr heiklichen Doctor nicht 
gern des Nachts Wecken ließ; doch die Nachbarin dringt wie 
derholt in mich, bis ich endlich um den Arzt schicke, der aber 
an dem Patienten nichts Bedenkliches findet und sich wieder 
entfernt Doch der Knabe kommt nicht mehr zur Ruhe, hält 
aber die Augen wie schlafend geschlossen, und ich, durch den 
Arzt beruhigt, hielt dies höchstens für einen bösen Traum, 
da öffnet der Knabe plötzlich die Augen, aber sie waren be 
reits gebrochen, er lag in der — Agonie!! Der gleich wie 
der geholte Arzt fand ihn nur noch sterbend vor! 
Ich übergehe die nun folgenden ohnehin unbeschreiblichen, 
herzzerreißenden Familienscenen, und halte mich nur noch an 
die hier in Frage kommenden überlebenden Personen, nämlich 
meine Frau und das armselige Mädchen, als mein letztes, dem 
Tode mit knapper Noth entrissenes Kind: 
Einige Wochen vor der geschilderten Katastrophe war mei 
ner Frau, in Folge ihres Leibeszustandes (?), auf der Innenseite 
des linken Fußes über dem Knöchel, eine der von Blut 
strotzenden sogenannten Krampfadern, als sie eben mit dem 
Kochen beschäftigt war und ruhig beim Sparheerde stand, ge 
sprungen, worauf sie indeß nicht durch einen Schmerz, — 
denn diesen fühlte sie ganz und gar nicht —, sondern erst 
dann ausmerksam gemacht wurde, als sie eine Blutlache unter 
ihren Füßen gewahrte. Der schnell gerufene Arzt (der obige, 
als einziger des Ortes) erklärte übrigens den Vorfall für 
durchaus nicht so bedenklich, als wir uns denselben vorstellten, 
und wirklich wurde die Wunde blos durch den mechanischen 
Druck eines sofort angebrachten, festen Verbandes sehr bald 
vernarbt und gänzlich verheilt, so daß die Frau später ganz 
wie zuvor ohne Compresse frei herumgehen konnte. Bei der 
nächtlichen Abwartung der plötzlich erkrankten Kinder nun mochte 
sie sich aber diesen doch schon empfindlicheren Fuß in der 
kühlen Winternacht und dem feuchten, ebenerdigen Wohnzim 
mer — denn so sind alle Wohnungen des ganzen Ortes 
' (Marktfleckens) beschaffen —■ verkühlt haben; denn sie spürte 
in der verhängnißvollen Nacht vom 9. zum 10. December, 
während sie noch mit dem kranken Rudolph plauderte, einen 
heftigen Schmerz in den unteren Pqrthieen des linken Fußes, 
weshalb sie, wie schon oben erwähnt, um Mitternacht den 
eben ruhig einschlafenden Knaben verließ, um einigermaßen 
auszuruhen, freilich aber nicht ahnend, daß sie sich hiermit 
aus ewig von ihrem heißgeliebten Kinde verabschiede, noch 
auch, daß sie selbst vor Monaten das Bett nicht verlassen 
werde. Und doch war es so Kaum hatte sie sich nämlich 
zu Bette begeben, als sie in einen tiefen, weil lange entbehr 
ten Schlaf verfiel, den wir ihr natürlich recht gerne vergönn 
ten. Als sie jedoch bei Tagesanbruch erwachte, drang bereits 
aus dem nebenanliegenden Zimmer das Todesröcheln ihres 
theueren Rudolph, des zweiten Opfers, in ihr Ohr. Hastig 
wollte sie, ihren eigenen Schmerz vergessend, zu ihrem Kinde 
eilen, doch — wer beschreibt ihr Entsetzen — sie vermag ihren 
Fuß nicht mehr zu heben und keinerlei Gebrauch von ihm zu 
machen. Sie schnellt krampfhaft auf ihr Lager zurück, und 
unter ihrem verzweiflungsvollen Händeringen haucht das Kind, 
welches sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, aber nimmer 
wieder sah, im Nebenzimmer sein Leben aus. 
Betrachten wir nun den kranken Fuß der unglücklichen, 
fast mit dem Wahnsinn ringenden Mutter, so finden wir 
denselben im hohen Grade entzündet und bereits bedeutend 
angeschwollen; der Arzt constatirt einen in hohem Grade bös 
artigen „Rothlauf". Ich kenne nicht die medicinische Defini 
tion eines Rothlaufs, weiß auch nicht, ob jede äußere Ent 
zündung Rothlauf genannt wird, gewiß war nur, daß dieser 
sogenannte Rothlauf wirklich ein höchst bösartiger war. Der 
Arzt verordnete Anfangs eiskalte Umschläge, was mir an 
ihm sehr gefiel, da ich auf kaltes Wasser immer viel gehalten 
habe/ Doch der Fuß verschlimmerte sich in Folge oder 
ungeachtet ker kalten Wafferumschläge von Stunde zu 
Stunde, es bildeten sich gruppenweise und an vielen Stellen 
Flecke und zahlreiche Blüthen, welche, sich fort erweiternd und 
in einander verfließend, schnell in Eiterung übergingen. Bei 
solch' mißlichem Erfolge wurde nach 24 Stunden mit den 
kalten Umschlägen ausgesetzt, und nun mußte eine rein chi 
rurgische Behandlung Platz ergreifen, denn es handelte sich nur 
jetzt darum, den in Strömen von allen Seiten fließenden 
Eiter aufzufangen und zu entfernen. Der Eiterungsproceß 
griff nun furchtbar um sich, eine gräuliche Verwüstung des 
Fußes bis gegen die Zehen, oberseits aber bis an das Knie 
anrichtend. Unmassen von Charpie, mit deren Erzeugung 
fortwährend viele Hände beschäftigt waren, wurden während 
dieser wochenlangen, zerstörenden und schmerzvollen Procedur 
verbraucht, wobei der Fuß periodisch mit lauem Wasser rein 
gewaschen wurde. In diese Zeit (den 6. Januar 1862) siel 
die unter solchen Umständen mit großer Angst erwartete Nie 
derkunft, die um so bedenklicher machte, als alle vorherigen 
Geburten, selbst unter normalen Umständen, mit der Zange 
bewirkt werden mußten. Glücklicherweise ging jedoch diesmal 
die Geburt gegen alle Erwartung ziemlich leicht von Statten 
und machte den Beistand des Accoucheurs entbehrlich. Ich 
athmete freudig auf, daß ich in dem Neugeborenen wieder 
einen Sohn erhalten habe (gleichsam als Ersatz für die vor 
Monatsfrist verlorenen 2 Knaben), indeß sollte meine Freude 
nicht lange dauern, denn das sehr schwächliche Kind wollte 
nicht prosperiren und folgte nach einem kurzen Lebenslaufe 
von 6 Monaten im Juli 1862 seinen Geschwistern in's Grab. 
Das Kind litt, da es ohne Mutterbrust künstlich aufgefüttert 
werden mußte, vom Anbeginn an Verdauungsschwäche, ma- 
.gerte nach und nach bis zu einem förmlichen Skelett ab und 
starb endlich an sogenannten Fräßen, einem schauerlichen, Ge 
sicht und Glieder verzerrenden Krampfanfalle, dem es noch
	        
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