131
rührend, welche damit von ihrem Stuhle geglitten und kaum
noch rechtzeitig vom bestürzten Vater aufgefangen worden war.
Das von Bertha selbst immer Zum Schutze gegen ihre Ohn
macht-Zufälle bei sich geführte Riechfläschchen wollte, obgleich
sofort vom Vater angewandt, diesmals nicht so recht seine
Dienste thun, und man sah sich deshalb genöthigt, das junge
Mädchen aus der Kirche nach der nahen Schulmeisterwohnung
zu tragen, wobei der zur Kirchweih mit anwesende Herr Chi
rurg Schöppe notgedrungen, wenn auch mit Bedauern im
Herzen, daß er solcher Predigt, die so ganz seiner Ueberzeu
gung Worte gab, entsagen mußte, das Geleite gab. Am
Eingang der Kirche stand der Fremde, der Herrn Augustin
auf dem letzten Theile der Fußparthie sich angeschlossen ge
habt und, wiewohl vergeblich, gleich nach dem Vernehmen
des fraglichen Aufschreies, den Versuch gemacht hatte, sich nach
der Gegend hindurchzuarbeiten, wo jener ertönt war Jetzt,
als man Bertha vorbeigetragen brachte, redete der Fremde
Herrn Augustin mit der Eröffnung an, daß er Arzt und sehr
gern bereit sei, die etwa nöthige Hülse zu leisten, hinzufü
gend, daß, wenn das Mädchen nicht etwa schon epileptisch
gewesen, dieser Zustand leicht die Folge von der jetzigen,
wahrscheinlich durch Erkältung herbeigeführten Ohnmacht wer
den könne; möglicher Weise aber und im schlimmen Falle,
nämlich dann, wenn das Mädchen zwar bald — wie es jetzt,
wo die frischere Außenluft sie berühre, fast scheine — sich
wiederhole, aber einen zweiten Anfall bekommen sollte, sei der
Paroxhsmus auch leicht lebensgefährlich und er empfehle da
her als kräftigstes Gegenmittel auch im Falle der scheinbaren
Wiederholung, sofortige Entkleidung der Patientin und starke
Frottation, ausgeführt am besten zuerst mit feuchten Tüchern,
dann mit trockenem Flanell."
Herr Schöppe hatte, während der Fremde so nicht ganz
.leise zu Herrn Augustin^ gesprochen, den unberufenen Rathge
ber scharf in's Auge gefaßt, aber obwohl .ihm das Aeußere
desselben nicht ganz unbekannt vorgekommen, doch keinen Arzt
der Umgegend oder der benachbarten Städte aus ihm heraus
finden können und hielt sich daher für berechtigt, einzuhalten,
daß er hier der nächstberusene Rathgeber erscheine und nach
seinem Dafürhalten dem Fräulein sofort zur Ader gelassen
werden müsse. Der Fremde protestirte dagegen, da bei der
ohnedies schon durch den Erkältungseindruck hervorgebrachten
Blutlosigkeit der äußeren Haut, aber Anstauung des Blutes
in den inneren, edleren Organen, der Aderlaß die Folgen
der Erkältung nur verschlimmern könne. Herr Schöppe aber
erwiederte daraus, der Fremde replicirte, jener duplicirte, und
so ging es fort, wenn auch mit halblauter Stimme.
Zu diesen gegenseitigen Bemerkungen der beiden Jünger
des Aesculap hatte Herr Augustin, der die Tochter unter
den Armen umfaßt trug, während zwei Frauen, worunter die
Frau Schulmeistern, für den-Transport des übrigen Körpers
sorgten, nur die bei der ungewohnten Anstrengung ihm allein
zulässig scheinende Form der Bejahung und Aufforderung zur
Begleitung an den Fremden, nämlich die durch Kopfnicken,
gegeben. Nachdem aber die Schulwohnung erreicht, Bertha
auf den Lehnsessel der Wohnstube niedergesetzt und der Pflege
der Frau Pastor Löser, welche dem Conduct sich ebenfalls an
geschlossen hatte, wie der Frau Schulmeisterin, übergeben war,
wendete sich Herr Augustin mit der inständigen Bitte an die
beiden Aerzte, das zu thun, was hier die schleunigste und
sicherste Hülfe bringen könne, und stürzte darauf aus der
Thüre, um Boten zu seiner, Frau nach Mölsitz und zum Me-
dicinalrath nach B. zu expediren. In diesem Augenblicke
schlug Bertha die Augen auf, erhob sich mit Anstrengung,
sank aber sofort unter anderweitem lauten Schrei zurück auf
den Stuhl und diesmal ohne alle weitere Regung und Be
wegung der Glieder — sie glich einer Todten.
Der Fremde untersuchte hierauf sofort die Kranke auf
das Genaueste und fand vollständige Bewegungslosigkeit, gänz
liche Empfindungslosigkeit, ganz schwachen Puls, kaum noch
bemerkbaren Athem und Schweiß im Gesichte vor. Letzteres
erschien überdies verfallen und fühlte sich, wie auch die Hände,
durchaus kalt an. — „Hier ist," sagte er „nur noch
von Anwendung des Kältereizes, in Verbindung mit Anre
gung der Muskeln durch starke Frottation, ein Resultat zu
erwarten, und ich bitte die Damen, das Fräulein schleunigst
zu entkleiden, auf eine Matratze oder , wenn diese nicht da,
auf jenes Sopha dort oder auf diesen langausgezogenen Tisch
zu bringen und dann meinen weiteren Anordnungen gemäß
gefälligst zu verfahren."
„Sie werden mir," entgegnete Frau Pastor Löser, „nicht
zumuthen, bei Fräulein Augustin als Kammerjunger zu fun-
giren, und wenn ich mich auch dazu entschlösse, entschuldigen
Sie, Herr Augustin — ach, er ist nicht da —, denn Noth
kennt kein Gebot, so fände ich doch eine Behandlung für sehr
unanständig, welche die völlige Entkleidung der Kranken nö
thig macht und deren Berührung noch dazu erheischt.
Fremder (für sich). 0 sancta simplicitas — könnte
man hier in That und Wahrheit sagen! (Laut) Wenn Sie
im Stande sind, ein warmes Bad sofort zu beschaffen, in
welchem das Fräulein dann aber auch frottirt werden müßte,
so wollte ich, wenn auch ungern, Ihrem ganz am unrechten
Orte angebrachten Schamgefühle Rechnung tragen; aber da
Sie dies nicht in der nöthigen Schnelle vermögen, so muß
ich darauf bestehen, daß die Kranke entkleidet und das mit
ihr vorgenommen wird, was ich für das hier Geeignetste
halte.
Schöppe. Mein Herr, mögen Sie meinetwegen Mzt
und berechtigt, ja leider dann berechtigter /sein, hier zu
sprechen als ich, so sehe ich doch nicht ein, warum der
Schnepper, den ich zur Hand habe, nicht über diese Etikettensrage
weghelfen soll.
Fremder. Allerdings, leider eine Etikettensrage,
und nur eine solche liegt hier vor —; denn vom rein
ärztlichen Standpunkte aus ist auch nicht der mindeste Zwei
fel, daß bei diesem jeden Falls schon lange erschlafften
Muskelshstem (überfährt dabei tastend mit der Hand Arme
und Schenkel der Ohnmächtigen), welches die größte Mangel
haftigkeit der Bluteirculation in den Capillargefäßen verräth,
der Aderlaß wahrscheinlich nicht einmal einen Bluterguß er
zielt, daß aber, wenn er diesen doch bewirkte, durch die
dann von der Peripherie auch auf die inneren Organe desto
leichter fortgesetzte gänzliche Erlahmung, der wirkliche Tod die
sofortige Folge sein würde, während die durch die intensive
Erkältung herbeigeführte Hauterlahmung zur Zeit nur reflee-
torisch den scheinbaren Tod, d. h. die momentane Lähmung
der Nerveneentra in Kopf und Rückgrat verursacht hat und
durch stärkere Reaetionsanregung mittels Kältereiz und Druck
noch gehoben werden kann.
„Also helfen Sie mir, meine Damen", fuhr der Fremde
fort, und begann dabei ohne weitere Umstände das schein-
todte Mädchen am Oberkörper zu erheben, damit eine der
Frauen im Stande sei, die Kleidung zu öffnen. Die Frau
Pastorin, obwohl hochroth vor Zorn, entschloß sich auch end
lich hierzu, während die Schulmeisterin auf weitere Anord-