Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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rührend, welche damit von ihrem Stuhle geglitten und kaum 
noch rechtzeitig vom bestürzten Vater aufgefangen worden war. 
Das von Bertha selbst immer Zum Schutze gegen ihre Ohn 
macht-Zufälle bei sich geführte Riechfläschchen wollte, obgleich 
sofort vom Vater angewandt, diesmals nicht so recht seine 
Dienste thun, und man sah sich deshalb genöthigt, das junge 
Mädchen aus der Kirche nach der nahen Schulmeisterwohnung 
zu tragen, wobei der zur Kirchweih mit anwesende Herr Chi 
rurg Schöppe notgedrungen, wenn auch mit Bedauern im 
Herzen, daß er solcher Predigt, die so ganz seiner Ueberzeu 
gung Worte gab, entsagen mußte, das Geleite gab. Am 
Eingang der Kirche stand der Fremde, der Herrn Augustin 
auf dem letzten Theile der Fußparthie sich angeschlossen ge 
habt und, wiewohl vergeblich, gleich nach dem Vernehmen 
des fraglichen Aufschreies, den Versuch gemacht hatte, sich nach 
der Gegend hindurchzuarbeiten, wo jener ertönt war Jetzt, 
als man Bertha vorbeigetragen brachte, redete der Fremde 
Herrn Augustin mit der Eröffnung an, daß er Arzt und sehr 
gern bereit sei, die etwa nöthige Hülse zu leisten, hinzufü 
gend, daß, wenn das Mädchen nicht etwa schon epileptisch 
gewesen, dieser Zustand leicht die Folge von der jetzigen, 
wahrscheinlich durch Erkältung herbeigeführten Ohnmacht wer 
den könne; möglicher Weise aber und im schlimmen Falle, 
nämlich dann, wenn das Mädchen zwar bald — wie es jetzt, 
wo die frischere Außenluft sie berühre, fast scheine — sich 
wiederhole, aber einen zweiten Anfall bekommen sollte, sei der 
Paroxhsmus auch leicht lebensgefährlich und er empfehle da 
her als kräftigstes Gegenmittel auch im Falle der scheinbaren 
Wiederholung, sofortige Entkleidung der Patientin und starke 
Frottation, ausgeführt am besten zuerst mit feuchten Tüchern, 
dann mit trockenem Flanell." 
Herr Schöppe hatte, während der Fremde so nicht ganz 
.leise zu Herrn Augustin^ gesprochen, den unberufenen Rathge 
ber scharf in's Auge gefaßt, aber obwohl .ihm das Aeußere 
desselben nicht ganz unbekannt vorgekommen, doch keinen Arzt 
der Umgegend oder der benachbarten Städte aus ihm heraus 
finden können und hielt sich daher für berechtigt, einzuhalten, 
daß er hier der nächstberusene Rathgeber erscheine und nach 
seinem Dafürhalten dem Fräulein sofort zur Ader gelassen 
werden müsse. Der Fremde protestirte dagegen, da bei der 
ohnedies schon durch den Erkältungseindruck hervorgebrachten 
Blutlosigkeit der äußeren Haut, aber Anstauung des Blutes 
in den inneren, edleren Organen, der Aderlaß die Folgen 
der Erkältung nur verschlimmern könne. Herr Schöppe aber 
erwiederte daraus, der Fremde replicirte, jener duplicirte, und 
so ging es fort, wenn auch mit halblauter Stimme. 
Zu diesen gegenseitigen Bemerkungen der beiden Jünger 
des Aesculap hatte Herr Augustin, der die Tochter unter 
den Armen umfaßt trug, während zwei Frauen, worunter die 
Frau Schulmeistern, für den-Transport des übrigen Körpers 
sorgten, nur die bei der ungewohnten Anstrengung ihm allein 
zulässig scheinende Form der Bejahung und Aufforderung zur 
Begleitung an den Fremden, nämlich die durch Kopfnicken, 
gegeben. Nachdem aber die Schulwohnung erreicht, Bertha 
auf den Lehnsessel der Wohnstube niedergesetzt und der Pflege 
der Frau Pastor Löser, welche dem Conduct sich ebenfalls an 
geschlossen hatte, wie der Frau Schulmeisterin, übergeben war, 
wendete sich Herr Augustin mit der inständigen Bitte an die 
beiden Aerzte, das zu thun, was hier die schleunigste und 
sicherste Hülfe bringen könne, und stürzte darauf aus der 
Thüre, um Boten zu seiner, Frau nach Mölsitz und zum Me- 
dicinalrath nach B. zu expediren. In diesem Augenblicke 
schlug Bertha die Augen auf, erhob sich mit Anstrengung, 
sank aber sofort unter anderweitem lauten Schrei zurück auf 
den Stuhl und diesmal ohne alle weitere Regung und Be 
wegung der Glieder — sie glich einer Todten. 
Der Fremde untersuchte hierauf sofort die Kranke auf 
das Genaueste und fand vollständige Bewegungslosigkeit, gänz 
liche Empfindungslosigkeit, ganz schwachen Puls, kaum noch 
bemerkbaren Athem und Schweiß im Gesichte vor. Letzteres 
erschien überdies verfallen und fühlte sich, wie auch die Hände, 
durchaus kalt an. — „Hier ist," sagte er „nur noch 
von Anwendung des Kältereizes, in Verbindung mit Anre 
gung der Muskeln durch starke Frottation, ein Resultat zu 
erwarten, und ich bitte die Damen, das Fräulein schleunigst 
zu entkleiden, auf eine Matratze oder , wenn diese nicht da, 
auf jenes Sopha dort oder auf diesen langausgezogenen Tisch 
zu bringen und dann meinen weiteren Anordnungen gemäß 
gefälligst zu verfahren." 
„Sie werden mir," entgegnete Frau Pastor Löser, „nicht 
zumuthen, bei Fräulein Augustin als Kammerjunger zu fun- 
giren, und wenn ich mich auch dazu entschlösse, entschuldigen 
Sie, Herr Augustin — ach, er ist nicht da —, denn Noth 
kennt kein Gebot, so fände ich doch eine Behandlung für sehr 
unanständig, welche die völlige Entkleidung der Kranken nö 
thig macht und deren Berührung noch dazu erheischt. 
Fremder (für sich). 0 sancta simplicitas — könnte 
man hier in That und Wahrheit sagen! (Laut) Wenn Sie 
im Stande sind, ein warmes Bad sofort zu beschaffen, in 
welchem das Fräulein dann aber auch frottirt werden müßte, 
so wollte ich, wenn auch ungern, Ihrem ganz am unrechten 
Orte angebrachten Schamgefühle Rechnung tragen; aber da 
Sie dies nicht in der nöthigen Schnelle vermögen, so muß 
ich darauf bestehen, daß die Kranke entkleidet und das mit 
ihr vorgenommen wird, was ich für das hier Geeignetste 
halte. 
Schöppe. Mein Herr, mögen Sie meinetwegen Mzt 
und berechtigt, ja leider dann berechtigter /sein, hier zu 
sprechen als ich, so sehe ich doch nicht ein, warum der 
Schnepper, den ich zur Hand habe, nicht über diese Etikettensrage 
weghelfen soll. 
Fremder. Allerdings, leider eine Etikettensrage, 
und nur eine solche liegt hier vor —; denn vom rein 
ärztlichen Standpunkte aus ist auch nicht der mindeste Zwei 
fel, daß bei diesem jeden Falls schon lange erschlafften 
Muskelshstem (überfährt dabei tastend mit der Hand Arme 
und Schenkel der Ohnmächtigen), welches die größte Mangel 
haftigkeit der Bluteirculation in den Capillargefäßen verräth, 
der Aderlaß wahrscheinlich nicht einmal einen Bluterguß er 
zielt, daß aber, wenn er diesen doch bewirkte, durch die 
dann von der Peripherie auch auf die inneren Organe desto 
leichter fortgesetzte gänzliche Erlahmung, der wirkliche Tod die 
sofortige Folge sein würde, während die durch die intensive 
Erkältung herbeigeführte Hauterlahmung zur Zeit nur reflee- 
torisch den scheinbaren Tod, d. h. die momentane Lähmung 
der Nerveneentra in Kopf und Rückgrat verursacht hat und 
durch stärkere Reaetionsanregung mittels Kältereiz und Druck 
noch gehoben werden kann. 
„Also helfen Sie mir, meine Damen", fuhr der Fremde 
fort, und begann dabei ohne weitere Umstände das schein- 
todte Mädchen am Oberkörper zu erheben, damit eine der 
Frauen im Stande sei, die Kleidung zu öffnen. Die Frau 
Pastorin, obwohl hochroth vor Zorn, entschloß sich auch end 
lich hierzu, während die Schulmeisterin auf weitere Anord-
	        
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