Volltext: Erstes Bändchen. Beiträge zur Landes- und Volkskunde des oberen Mühlviertels. (1. 1912)

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Aber auf die Hauptsache müssen "wir noch warten, bis das Volk selbst, Männer 
und Frauen aus der Mitte des Volkes, reden wird. Dazu anzuregen und anzueifern 
ist der Zweck dieses Aufsatzes. Mir ist jedwede Mitteilung von Sagen, Märchen 
und Schwänken aus dem oberen Mühlviertel höchst willkommen, mag sie auch noch 
so holperig oder mit Fehlern in der Rechtschreibung niedergeschrieben sein. Das 
wird schon von der Redaktion verbessert werden. Das Wichtigste ist und bleibt, 
daß die zugeschickten Geschichten Mühlviertlerisch sind, das heißt, im Mühlviertel 
erzählt wurden oder noch im Schwange sind. Im folgenden bringen wir vier bisher 
ungedruckte Sagen und drei ebenfalls bis jetzt unveröffentlichte Märchen. Die erste 
Sage verdanken wir der gütigen Mitteilung des Herrn Bürgermeisters und Kunst- 
müllers Heinrich Wöß in Julbach, die darauffolgenden drei Donausagen sind von 
dem hochwürdigen Herrn Pfarrer Johann Sigl in Niederkappel eingesandt worden, 
die Märchen aber hat Herr Schulleiter Otto Lutz in Schlägl von Schulkindern 
aufgeschrieben erhalten, denen die Aufgabe gestellt war, irgend eine Geschichte, die 
ihnen daheim von der Mutter oder sonst jemand erzählt worden war und ihnen 
besonders gefallen hatte, schriftlich wiederzugeben. Wenn diese Märchen vielleicht 
auch nicht alle im Mühlviertel entstanden sind, so werden doch alle in den Kreisen 
unseres Volkes erzählt. Darum wählte ich als Ueberschrift: „Sagen und Märchen 
aus dem Mühlviertel." Der Name des betreffenden kleinen Schriftstellers ist nach 
jeder Nummer angegeben. — Aber ist es denn wirklich der Mühe wert, diese 
Geschichten eigens zu sammeln? Die Brüder Grimm schließen das Vorwort des 
ersten Teiles ihrer „Deutschen Sagen" mit dem schönen Satze: „Das Geschäft des 
Sammelns verlohnt sich, so bald es einer ernstlich tun will, bald der Mühe, und 
das Finden reicht noch am nächsten an jene unschuldige Lust der Kindheit, wann 
sie in Moos und Gebüsch ein brütendes Vöglein ans seinem Nest überrascht; es ist 
auch hier bei den Sagen ein ist Aufheben der Blätter und behutsames Wegbiegen 
der Zweige notwendig, um das Volk nicht zu stören und um verstohlen in die 
seltsam, aber bescheiden in sich geschmiegte, nach Laub, Wiesengras und frischgefallenem 
Regen riechende Natur blicken zu können." Vielleicht noch schöner spricht sich der 
große Künstler des Holzschnittes, Ludwig Richter, der selber so viele Märchen sinnig 
illustriert hat, aus: „Wer das Ohr auf den Waldboden der Sagen und Märchen 
niederlegt, der vernimmt das mächtige Rauschen eines verborgenen Quells, den 
Herzschlag des deutschen Volkes." Und nun noch ein Wort über das Erzählen der 
Märchen und Sagen. Es ist das eine Kunst, die manch altes Mütterlein besser 
versteht, als der gelehrteste Hochschulprofessor. Vor allem ist es aber notwendig, 
daß man sich vor willkürlichen, wesentlichen Aenderungen hüte. Es ist ganz merk¬ 
würdig, mit welcher Treue des Gedächtnisses sich solche Geschichten von den Urgro߬ 
eltern auf die spätesten Enkel fortgepflanzt haben. Ferner müssen alle guten Lehren, 
die sogenannten moralischen Nutzanwendungen, weggelassen werden. Das Märchen 
wirkt durch sich selbst und nichts ist widerlicher, als wenn dem Kinde auch beim 
Geschichtenerzählen mit dem Zeigefinger der rechten Hand gedroht wird: „Nur ja 
recht schön brav sein!" Die Sage bindet sich an bestimmte Orte, teilweise sogar an 
eine gewisse Zeit, während das Märchen dies nicht tut. Klare, wirkungsvolle Bilder, 
namentlich aus der Natur, beleben die Erzählung, ebenso passende schmückende Bei¬ 
wörter. Die Fremdwörter müssen verdeutscht werden, nur in der Erzählung von Soldaten 
kann man Fremdwörter gebrauchen. Gerne werden Sprichwörter herangezogen, gleich¬ 
bedeutende oder gleichlautende Wörter miteinander verbunden, bestimmte Zahlen (drei, 
sieben, zwölf) statt der unbestimmten gewählt. Vielfach darf auch der neckische, lustige, 
komische Ton nicht fehlen, er trägt sehr viel zur Erhöhung des Eindruckes bei.
	        
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