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MILITÄRISCHE VORLESUNGEN
Kraft des ganzen Staates einsetzen, dessen Vertreter er auf
dem Schlachtfeld ist, muß seine Kräfte und seine Schwä¬
chen berechnen.
Die schwierigste Aufgabe des Feldherrn ist es, die sitt¬
liche Kraft des ganzen Landes zu berechnen. Wie viele un¬
glückselige Feldherren haben den Krieg verlieren müssen,
weil sie sich, ihrem eigenen Gewissen und kühlen Berech¬
nungen zum Trotz, bemühen mußten, den Sieg zu erkämp¬
fen, um nur Erfolge zu erzielen und mit ihnen Herzen und
Geister zu befriedigen. Der Oberste Feldherr muß jedoch
auch ununterbrochen den anderen Staat, gegen den er
Krieg führt, in seine Rechnung einbeziehen. Um den Sieg
zu erringen, muß er die Schwächen des anderen Teils zu
entdecken suchen, um ihn an diesen schwachen Stellen zu
treffen. Er muß die Augenblicke ausfindig machen, in
denen der gegnerische Staat schwächer wird, um ihm dann
den Sieg abzuringen.
Meine Herren, gegen eine solche Art von Führung durch
Befehl, der bis an die Seele, bis an Leben und Tod reicht,
gegen eine Führung, welche die Kräfte des ganzen Staates
und auch des Gegners im Kriege abwägen muß, vermag
niemand etwas auszurichten. Das Gesetz des Krieges ist
nämlich außergewöhnlich und erfordert außergewöhnliche
Rechte und Vollmachten.
In Polen, das den Krieg genau kennen müßte, da es ihn
länger als andere Staaten auf seinem eigenen Grund und
Boden erlebt hat — und dies erst vor so kurzer Zeit *—
sollte wohl Verständnis dafür bestehen, welch ungewöhn¬
liche Anstrengungen der Krieg erfordert und welches Aus¬
nahmerecht deshalb damals über Polen verhängt war.
Nun muß ich auch den Seelenzustand des Obersten Feld¬
herrn in Betracht ziehen. Alle, die darüber nachzudenken