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MILITÄRISCHE VORLESUNGEN
Konzeptionen zur Ausführung; der Führer ist ihr Schöp¬
fer, er hat die Pflicht, gedanklich zu schaffen.
Wenden wir uns jetzt der Planung des Feldzugs von
Wilno zu; denn darin werden wir die Beispiele für das vor¬
her Gesagte finden. Als Wilno im Jahre 1918/19 in die
Hände der Bolschewisten fiel, trennten mich 300 Kilometer
und deutsche sowie bolschewistische Streitkräfte von dieser
Stadt. Wilno ist die Stadt meiner Kindheit, ich liebe sie
und habe mich lange Jahre hindurch nach ihr gesehnt. Das
Schicksal der Stadt Wilno — das war mir seelisch ein
Kernpunkt und eine Notwendigkeit, die mich unwidersteh¬
lich anzog. Im großen Bildfeld meiner Seele erschien Wilno
als rosenroter Fleck im Norden des großen roten Flecks
der ringenden Stadt Lemberg, wohin ich aus dem Zwang
der Notwendigkeit Hilfstruppen entsenden mußte. Und
meiner Seele war zumute wie jener Frau in Wyspianskis
„Hochzeit66: „Not ruft stumm, rundherum, rundherum!66
Das Muß der Jugendjahre, der Liebe und der Erinnerun¬
gen rief sie, und Wilno war für mich das Erbteil langer
Jahre der Sehnsucht und treuer Anhänglichkeit.
Feldherren haben für diese oder jene Konzeption eine
Vorliebe, und das kann für sie zu einem gefährlichen Ge¬
dankenknoten werden. Bei Lemberg kündigte sich ein
klarer, unzweideutiger Krieg an; bei Wilno dagegen war
noch nichts Bestimmtes festzustellen. Die Notwendigkeit,
nach Lemberg Hilfstruppen zu senden, war augenschein¬
lich, und das Schicksal Wilnos bildete im Kriegsplan eine
Art von Hinterhalt.
Ob ich falsch gehandelt habe, daß ich meine Eingebung,
im Dezember 1918 Hilfstruppen nach Wilno zu senden,
fallen ließ — darüber mag die Geschichte ihr Urteil fällen.