Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Am selben Tage (16. Dezember) besprach ich das gleiche Thema 
auch mit Graf Berchtold. 
Am 18. Dezember erhielt ich nachstehenden Bericht des auch für 
Belgien akkreditierten k. u. k. Militärattaches in Paris Oberst Vidale: 
„Euer Exzellenz! 
Bevor ich nach Paris von Brüssel zurückkehre, wo ich meine 
Antrittsmeldungen teilweise absolvierte — der König bekam Influenza 
und ließ mir sagen, er müsse die Audienz verschieben — und Fühlung 
mit den hiesigen politischen und militärischen Kreisen nahm, melde ich 
E. E. in Kürze die Eindrücke, die ich hier über die augenblickliche Lage 
und deren Beurteilung empfing. 
Gleichzeitig mit meinem Eintreffen wurde der Wechsel in den beiden 
leitenden Stellen unserer Armee bekannt, und da ich in den Tagen meines 
Aufenthaltes oft Gelegenheit hatte, mit den Herren der kaiserlich deutschen 
Vertretung beisammen zu sein, konnte ich aus Fragen, die an mich gestellt 
wurden und aus Bemerkungen, die ich — obwohl nicht für mich 
bestimmt — zufällig hörte, mir ein Bild machen, welche Empfindungen 
diese allen überraschend gekommene Änderung auslöste. Die Berufung 
E. E. auf den schon früher eingenommenen Posten bedeute den »Sieg 
der Kriegspartei«. Die Existenz einer solchen scheint sowohl in Frank¬ 
reich, als auch in Belgien als feststehende Tatsache zu gelten. 
Vor allem bedeute der Wechsel in diesem kritischen Augenblick ein 
Eingeständnis bisheriger Schwäche, eine Unsicherheit, die keinen günstigen 
Eindruck, namentlich auf einen Bundesgenossen, mache. 
Unkonsolidierte Verhältnisse, jährlich eine andere Auffassung, wer 
recht habe, wer zu führen und in den ernstesten Fragen zu entscheiden 
habe. 
Anderseits weiß man ganz gut, daß die jetzige Krise der kurz¬ 
sichtigen Orientpolitik des früheren Ministers des Äußern zuzuschreiben 
ist, der den Moment versäumte, sich den dauernden Einfluß am Balkan 
zu sichern und dessen auf einen scheinbaren Augenblickserfolg abzielende 
Politik E. E. damals zum Rücktritt bewog. 
Ebenso ist man sich darüber klar, daß die nun folgenden diploma¬ 
tischen und militärischen Schritte der Monarchie im Einklang und 
energisch sein werden. 
Aber aus allem, was ich hörte und was ich hier nur zusammen¬ 
fassend registriere, schien mir unausgesprochen die Besorgnis durch¬ 
zuklingen: »Wird sich nicht auch das wieder über Nacht ändern? In 
Österreich ist ja alles möglich!« 
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