Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Ostasien, sondern nach den offen zutage liegenden Handlungen in Europa, 
besonders auch nach dem Verhalten des russischen Gesandten in Belgrad 
zu beurteilen und darnach die eigene Stellungnahme einzurichten. Die 
Aufstellung der österreichischen Minimalforderungen gegenüber Serbien 
und die Erklärung, daß die Monarchie hiervon unter keinen Umständen 
abweichen werde, ist eine klare und grundsätzliche Politik, die sich sehr 
vorteilhaft von der vielfach widerspruchsvollen Haltung der übrigen 
Mächte, mit Ausnahme Deutschlands, abhebt. 
Indessen ist zu berücksichtigen, daß es bei der Regelung der Balkan¬ 
fragen neben den serbischen Hafenansprüchen noch manche andere 
erhebliche Schwierigkeit geben wird. 
Die Meerengenfrage wird nicht mehr umgangen werden können. 
Wenn Bulgarien auch an das Marmara-Meer käme, wäre sie sofort gelöst, 
denn dann fiele das Tor an den Dardanellen von selbst fort. Deshalb 
will Rußland, daß der Türkei das Land mindestens bis zur Mündung 
der Maritza verbleibe. Aber die so geschwächte Türkei wird die Meer¬ 
engen nicht mehr als ihr Eigentum betrachten können, zumal Bulgarien 
als Uferstaat des Schwarzen und des Ägäischen Meeres für sich die freie 
Durchfahrt durch die Meerengen zu fordern berechtigt ist. Es dürfte 
deshalb schließlich doch den Russen ein Anteil an den Meerengen 
zugesprochen werden müssen, was jedoch erst nach recht schwierigen 
Verhandlungen erreicht werden kann. — Dann tritt die schwierige Frage 
nach dem Schicksale der Ägäischen Inseln auf, von denen sich augen¬ 
blicklich noch zwölf im Besitze der Italiener befinden, während die 
übrigen eiligst von Griechenland besetzt wurden. Noch schwieriger wird 
die Salonik-Frage werden, wo seit kurzem unter der Leitung des Wiener 
Zionistenführers Dr. Jakobsohn ein jüdisch-autonomistisches Komitee eine 
leidenschaftliche Kampagne gegen die griechische Besetzung der Stadt 
eingeleitet hat. Der Niederschlag dieser Bemühungen hat sich bereits 
im österreichischen Abgeordnetenhause merklich gemacht. Und wie soll 
die Forderung Rumäniens auf eine Gebietsabtretung Bulgariens erfüllt 
werden? Wenn diese nicht erfolgt, so wird die Stimmung in Rumänien 
eine böse Wendung nehmen. Man wird die Behauptung aufstellen, daß 
die bisherige dreibundfreundliche Haltung des Königreiches dem Lande 
nichts einbringe, während alle Nachbarstaaten sich vergrößern. Interessant 
dürfte auch die Frage werden, wer an die Spitze des künftigen albanesischen 
Staates treten soll. Der ägyptische Prinz Fuad, der Enkel des Albanesen 
Mehmed Ali, hat sich dieser Tage auch in Wien als Thronbewerber 
vorgestellt. Als Gelehrter und Rektor der arabischen Universität in Kairo 
hat er sich bereits früher viel Sympathien erworben, die ihm jetzt nützlich 
werden könnten. Neben dieser Kandidatur ist die des Prinzen Viktor 
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