Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Rußlands eine Vereinbarung darüber getroffen sein, daß sich beide Reiche 
durch keine wie immer gearteten von England ausgehenden Machen¬ 
schaften von dem friedlichen Grundcharakter ihrer Politik abbringen 
lassen werden. 
Allerdings so ganz einfach ist dies für Rußland nicht. Es ist mit 
Frankreich verbündet und mit England befreundet. Es hat auch moralische 
Verpflichtungen gegenüber den Balkanstaaten, es muß auch auf die 
panslawistischen Strömungen im eigenen Lande Rücksicht nehmen. Aber 
bisher hat der Zar noch immer das letzte Wort im friedlichen Sinne selbst 
gesprochen. Nun ist ferner in den letzten Wochen die schwere Verwick¬ 
lung in Ostasien hinzugekommen. Rußland ist entschlossen, die Mongolei 
zu einem russischen Vasallenstaat zu machen. Dieses Land, das in die 
innere und die äußere Mongolei zerfällt, ist im Flächenraum doppelt so 
groß als die habsburgische Monarchie, ist jedoch im Verhältnis zu China 
nur sehr dünn bevölkert. Daher der Entschluß Chinas, einige Millionen 
seiner überschüssigen Bevölkerung in die Mongolei zu entsenden, während 
Rußland das gleiche tun möchte. Die südliche Mongolei ist ein ziemlich 
warmes und fruchtbares Land, und wenn sich dort Rußland festsetzt, so 
kann es zugleich mit seinen Positionen im östlichen Turkestan das 
chinesische Reich von Norden und Westen völlig umklammern. Ebenso 
kann es von dort aus die Japaner in der Mandschurei erfolgreich 
bedrohen. Wenn also Rußland gegenwärtig den Willen hat, in der 
Mongolei vorzurücken und dabei den sicher zu erwartenden Widerstand 
Chinas und Japans zurückzuweisen, so kann es unmöglich gleichzeitig 
in ernsthafter Weise an einen Krieg in Europa denken. Wenn es trotzdem 
in dieser selben Zeit seine militärische Stellung in den Westprovinzen 
verstärkt, so kann dies immerhin als eine vorbeugende Maßnahme 
bezeichnet werden. Die russischen Westprovinzen mit ihren jetzigen 
Armeeständen von rund 350.000 Mann umfassen ein Territorium von 
der Größe Zisleithaniens, so daß man von einer Anhäufung der Truppen 
an der »Grenze« nicht gut reden kann. 
Es ist klar, daß die Verbündeten an der Seine und die Befreundeten 
an der Themse ein neues Vorrücken Rußlands in Ostasien nicht gerne 
sehen. Schon deshalb ist der militärische »Aufmarsch« in den West¬ 
provinzen notwendig, um in Paris und London den Wert der Allianz 
und der Entente nicht allzusehr herabsetzen zu lassen. Auch hat die 
Begründung mit der Haltung der Polen manches für sich. Im Laufe 
dieses Jahres haben manche Provokationen von seiten der Polen statt¬ 
gefunden, auf welche auch die vielbesprochene Resolution des galizischen 
Polenklubs Bezug nahm. Anderseits hat das Wiener Kabinett sehr recht 
daran getan, die Haltung Rußlands nicht nach den Vorgängen in 
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