Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

speziell das Zurückweichen des englischen und französischen Einflusses 
mit größter Genugtuung empfindet. Baron Marschall, der sich in Kon¬ 
stantinopel bereits recht unbehaglich fühlte und bei seiner Abreise im 
Juli nicht wußte, ob er wiederkehren werde, ist jetzt wieder voll Hoffnung 
und hat alle seine Gedanken an einen Abschied vom Bosporus wieder 
zurückgestellt. Trotz aller Befriedigung jedoch verhehlt man sich — wie 
ich aus bester Quelle erfahre — nicht, daß der Umschwung etwas zu 
plötzlich und zu früh gekommen ist und für die hiezu noch nicht hin¬ 
länglich vorbereitete Türkei manche Gefahren im Gefolge haben könnte. 
Major von Strempel sagte mir ausdrücklich, daß das Scheitern der 
türkisch-französischen Anleiheverhandlungen der deutschen Diplomatie 
höchst unerwünscht wäre, daß man durchaus nicht darauf spekuliere, die 
Anleihe in Deutschland unterzubringen und daß die deutschen Anbote 
nur den Zweck haben, der Türkei das Rückgrat zu stärken und sie in 
den Stand zu setzen, die französischen Bedingungen nach Möglichkeit 
herabzudrücken. 
So weit ich übrigens die Lage zu beurteilen imstande bin, scheint mir 
die Eventualität, daß die Türkei schon jetzt die Absicht haben könnte, 
sich offen an den Dreibund anzuschließen, nicht sehr wahrscheinlich zu 
sein. Wenn auch der politisch denkende Teil der türkischen Bevölkerung 
über den wahren Charakter der englisch-französischen Freundschaft nun¬ 
mehr ganz aufgeklärt und das bisherige blinde Vertrauen unwieder¬ 
bringlich verschwunden sein dürfte, so ist doch nicht anzunehmen, daß 
die Pforte sich schon jetzt für eine der Mächtegruppierungen in dezidierter 
Weise entscheiden könnte. Die türkische Politik wird seit jeher haupt¬ 
sächlich durch die Furcht vor England und Rußland beein¬ 
flußt und man ist nach meiner unmaßgeblichen Meinung noch lange 
nicht an dem Punkte angelangt, sich von diesem Angstgefühl zu 
emanzipieren und eine unabhängige Interessenpolitik zu beginnen. Es 
dürfte daher, besonders wenn die französische Anleihe doch zustande 
kommt und kein unvorhergesehener Zwischenfall eintritt, das türkische 
Staatsschiff in nächster Zeit, wenn auch mit mehr Vorsicht, so doch 
wieder ins englisch-französische Fahrwasser einlenken, wobei sich aller¬ 
dings der deutsche Gegenwind stärker geltend machen wird als bisher. 
Was nun unser Verhältnis zur Türkei anbetrifft, so dürften nunmehr 
so ziemlich alle maßgebenden Kreise von der Aufrichtigkeit und Uneigen¬ 
nützigkeit unserer Politik überzeugt sein. Wie aber trotz der Verstimmung 
gegen die Tripleentente und dem Ankauf der Schiffe „Brandenburg“ und 
„Kurfürst“ die Sympathien in der Türkei für das spezifisch Deutsche 
nicht gestiegen sind, so glaube ich auch nicht, daß man die Annexion 
in den letzten zwei Monaten vergessen und verwunden hat und daß 
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