Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

ErsterArtikel. 
„Die gegenwärtige Lage bedingt keinen Krieg! 
(Von diplomatischer Seite.) 
Wir halten den Krieg Österreichs gegen Serbien aus 
vielen Gründen, die teilweise in den späteren Artikeln dieser 
Nummer dargelegt werden, als unvermeidlich. Gleichwohl 
geben wir im nachstehenden einer uns von sehr schätzens¬ 
werter Seite zugehenden Darstellung der Lage Raum, aus der 
unsere Leser ersehen werden, daß wir wenigstens die Aus¬ 
dehnung des Krieges zu einem Weltkriege nicht zu fürchten 
brauchen. 
Der alte Lehrsatz: »Wenn du Frieden willst, so rüste zum Kriege«, 
heißt in der diplomatischen Praxis folgendermaßen: »Wenn die 
Regierungen diplomatische Verhandlungen führen, durch welche sie 
schwebende Streitfragen friedlich schlichten wollen, müssen sie durch 
militärische Vorkehrungen ihren Wünschen ein stärkeres Gewicht ver¬ 
leihen.« Dieser Grundsatz bietet vielleicht einen Fingerzeig dafür, daß 
manche beunruhigende Momente der vorigen Woche doch wohl nur den 
Zweck hatten, uns dem Frieden näher zu bringen. Allerdings hat auch 
der obige Grundsatz zwei Seiten. Militärische Vorkehrungen erzeugen 
immer eine mehr oder weniger militärische, ja sogar kriegerische 
Stimmung, und in solchen Stimmungen können bisweilen die bekannten 
»Unwägbarkeiten« eintreten, die den rollenden Stein weiter treiben als 
die ersten Bewegenden wollten. 
Wenn wir indessen heute die friedliche Entspannung mit Sicherheit 
erwarten, so liegen hiefiir faßbare Gründe vor. Die Bedrohung des 
Friedens könnte doch nur von den unberechenbaren und unverantwort¬ 
lichen Störungskräften am russischen Hofe ausgehen. Aber sollte 
wirklich der Zar so schwach sein, um gegen seinen Willen einen Krieg 
zuzulassen, der den Bestand seines Thrones und seines ganzen Reiches 
in Frage stellen könnte? Sollte wirklich die letzte Kaiserzusammenkunft 
in Baltisch-Port nur eine Komödie gewesen sein? Zar Nikolaus kennt 
die internationale Politik, und er weiß genau, wo sich die Quelle der 
fortgesetzten Störungen und Beunruhigungen befindet. Er ist auch unter¬ 
richtet darüber, daß in seinem Reiche und selbst an seinem Hofe Personen 
vorhanden sind, die einer Beeinflussung von ausländischer Seite unschwer 
unterliegen, besonders wenn sich dieselbe in ein russisch-patriotisches 
Gewand kleiden läßt. Dies weiß man aber auch in Berlin, und wenn 
man in Wien davon weniger Kenntnis haben sollte, so ist man sicher 
in Pest darüber schon aus eigener Praxis unterrichtet. Kurz gesagt: 
In Baltisch-Port dürfte zwischen den Herrschern Deutschlands und
	        
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