Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Italien hat zwar momentan den Vorteil einer mobilisierten kriegs¬ 
geübten Flotte, die Kaders seines Landheeres sind durch den tripoli- 
tanischen Krieg aber zweifellos derart in Mitleidenschaft gezogen, daß 
für eine rasche Kriegsbereitschaft die Bedingungen dermalen nicht günstig 
liegen — daher auch Italiens momentane Liebenswürdigkeit gegen die 
Monarchie. Allerdings kommt Italien an den Grenzen der Monarchie 
ein sehr weitgehend ausgebautes System permanenter Befestigungen zu¬ 
statten, welches den Angriffskrieg gegen diesen Staat um so schwieriger 
gestaltet, je mehr es dank den nicht zu leugnenden, von mir durch fünf 
Jahre fast erfolglos bekämpften Versäumnissen diesseits an den erforder¬ 
lichen Angriffsmitteln fehlt. Trotzdem ist es kaum wahrscheinlich, daß 
Italien dermalen einen Krieg gegen die Monarchie provozieren dürfte, 
wenn diese die Balkanstaaten auf ihrer Seite hat und nicht auch von 
Rußland angegriffen wird. 
Immerhin liegt in der Möglichkeit eines gleichzeitigen 
kriegerischen Auftretens Italiens und Rußlands gegen die Monarchie der¬ 
malen die größte Gefahr, und erwächst daher der Diplomatie vor allem 
die Aufgabe, ein solches Doppelengagement zu verhüten, sei es, daß 
Italien, oder sei es, was vorteilhafter wäre, daß Rußland in Schach 
gehalten, beziehungsweise zur Neutralität veranlaßt würde. 
Frankreich. Ich bin zwar hinsichtlich Frankreichs sehr wenig 
orientiert, glaube es jedoch dermalen derart finanziell engagiert, und zwar 
ganz besonders auch in Rußland, daß ihm ein Krieg nicht sehr will¬ 
kommen wäre. Die unablässigen Friedensbemühungen seiner leitenden 
Kreise scheinen diese Stimmung zu verraten. 
Deutschland dürfte infolge der Niederlage der Türkei zwar 
manchen Traum schwinden sehen und dürfte daher auch über den 
Zusammenschluß der Monarchie mit den Balkanstaaten zu einer großen 
Balkanmacht nicht sehr erfreut sein, aber die allgemeine Lage läßt es 
für Deutschland kaum rätlich erscheinen, sich feindlich gegen die 
Monarchie zu stellen, wenn diese das ganze West- und Südslawentum, 
sowie die Polen für sich hat. Auch wäre es für Deutschland eine Gefahr, 
Rußland größer und mächtiger werden zu lassen. 
England. Wie sich England zu der hier vorgeschlagenen Politik 
der Monarchie stellen würde, ist schwer zu entscheiden. Daß ihm die 
Entstehung eines neuen mächtigen Konkurrenten im östlichen Mittelmeer 
unbequem wäre, steht wohl außer Frage, aber es vermöchte dagegen 
doch nur seine maritime Kraft einzusetzen; ob es dies aber mit Rücksicht 
auf die stets gefürchtete Bedrohung seitens Deutschlands tun wird, ist 
fraglich. Wenn ja, so würde es dazu greifen, ob nun die Monarchie den 
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