Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

eine Spur jener geheuchelten Entrüstung, die in Szene gesetzt wurde, 
als Österreich-Ungarn 1914 notgedrungen bemüßigt war, sich seines 
unablässigen, agacanten, bis zum Meuchelmord greifenden Gegners zu 
erwehren. 
Es ist nicht verständlich, daß das vorbereitende Gehaben der vier 
genannten Balkanstaaten derart verborgen bleiben konnte, daß der 
Balkankrieg in so überraschender Weise loszubrechen vermochte. 
Aber, er war da! Er schuf eine ganz neue Lage, 
mit ihm mußte gerechnet werden! 
Von der Türkei abgesehen, war niemand schwerer durch ihn betroffen 
als Österreich-Ungarn. Insbesondere, als sich der Kriegserfolg auf Seite 
Serbiens neigte und dazu führte, daß dieser der ö.-u. Monarchie so gefähr¬ 
liche Feind einen Machtzuwachs erhielt, den er für seine gegen Österreich- 
Ungarn gerichteten aggressiven Ziele zu verwerten verstehen würde. 
Ob die ö.-u. Diplomatie durch den Balkankrieg überrascht wurde, 
oder ob sie hievon früher Kenntnis hatte, ist mir unbekannt. 
In seinem im Jahre 1919 erschienenen Buch: „Kriegsursachen etc.“ 
führt Dr. M. Bogicevic, ehemaliger serbischer Geschäftsträger in Berlin, 
an, daß Österreich-Ungarn „durch Zahlung hohen Entgeltes serbischer- 
seits Kenntnis vom Inhalt des Vertrages erhalten haben soll“*). 
Voll eingeweiht in den Vertrag war jedoch Rußland, und zwar 
durch die Vertragschließenden selbst, die den Zaren zum Schiedsrichter 
in strittigen Fragen gewählt hatten**). 
Diese neue Komplikation zwang die Pforte zum Abschluß des 
Tripoliskrieges. Sie brach die schon im Zuge befindlichen Verhandlungen 
in Ouchy (Schweiz) ab und Unterzeichnete am 18. Oktober 1912 den 
Frieden von Lausanne, in dem sie Tripolis — abgesehen von 
einigen gegenstandslosen Formalitäten — gänzlich Italien überließ. 
Italien hatte seinen Raub vollzogen, alle Gro߬ 
mächte sanktionierten ihn. 
Der inoffizielle Kleinkrieg dauerte in Tripolis, oder wie es von nun 
ab hieß, „Libyen“, allerdings noch fort. 
Rasch vollzogen sich nun die Ereignisse am Balkan 
Am 30. September mobilisierten die Balkanstaaten. Am 8. Oktober 
erfolgten im Namen aller Großmächte durch Österreich-Ungarn und auch 
*) Betrifft den bulgarisch-serbischen Vertrag vom 29. Feber 1912, 
der auf den Krieg gegen die Türkei abzielte. 
**) Im Juni 1912 — also nach Abschluß des Vertrages — war 
König Ferdinand von Bulgarien zu Besuch in Wien und in Berlin. Ob 
er dort auf den Vertrag zu sprechen kam oder nicht, ist mir unbekannte 
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