Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Kammer mit großer Majorität ein Vertrauensvotum und kann infolge¬ 
dessen die Stellung seiner Regierung als gesichert angesehen werden. 
Die kleinen Balkanstaaien, welche die momentane Verlegenheit der Türkei 
gewiß zu ihren Gunsten ausnützen möchten, finden hiezu keine Hand¬ 
habe; übrigens steht die durch die Erfolge in Tripolis moralisch gekräftigte 
Türkei gerüstet da und ist infolgedessen auch militärisch allen Eventuali¬ 
täten gewachsen. 
Die Bevölkerung — besonders die Mohammedaner — bewahrt eine 
durchaus patriotische, würdige Haltung. Die Albanesen, welchen die 
Regierung anfänglich mißtraute, verhalten sich ruhig und der Imam im 
Yemen schließt Frieden, so daß auch von dort nichts zu besorgen ist. 
Die finanzielle Krisis im Oktober hat sich in le.zter Zeit stark gemildert 
und dürfte in den nächsten Wochen vollkommen verschwinden. Am aller¬ 
wichtigsten jedoch ist die bewunderungswürdige Tapferkeit und Tüchtig¬ 
keit der turco-arabischen Streitkräfte in Tripolis, welche ganz unerwar eter- 
weise und alle Kalküle über den Haufen werfend zur Offensive über¬ 
gegangen sind und den Italienern sogar empfindliche Schlappen beizu¬ 
bringen imstande waren. 
Während vor fünf Wochen selbst die gewiegtesten Kenner der 
hiesigen Verhältnisse, ja selbst die erfahrensten türkischen Staats¬ 
männer und Militärs, die Situation in den düstersten Farben sahen und 
selbst eine Katastrophe nicht für ausgeschlossen hiel en, hat der verjüngte 
osmanische Staat eine ungeahnte Lebenskraft entfaltet und steht heute 
viel stärker da als bei Beginn des von Italien provozierten Krieges. 
Überdies hat sich die Türkei wieder einmal als ein Faktor erwiesen, in 
welchem alle auf Logik aufgebauten Kalküle und Voraussetzungen 
unmöglich zu sein scheinen. 
Die nächste und vorläufig wichtigste Folge dieser Lage ist die 
veränderte Haltung der Türkei zur Friedensfrage. Während man in 
Konstantinopel vor zwei Wochen froh gewesen wäre, die nominelle 
Souveränität des Sultans zu retten und bereit war, auf dieser Basis Frieden 
zu schließen, bezeichnet der Großvezier jetzt die unbedingte Erhaltung 
von Tripolis als türkische Provinz unter Verleihung von bloß wirtschaft¬ 
lichen Vorteilen an Italien als die einzig mögliche Friedensbedingung. 
Ganz abgesehen von dem durch die Waffenerfolge bedeutend 
gehobenen Selbstvertrauen der Osmanen sind es in erster Linie die 
Araber, welche eine Abtretung von Tripolis unter keiner Bedingung 
zugeben würden. Wie es sich nunmehr zu erweisen scheint, streben die 
vernünftigen arabischen Elemente in der Türkei wenigstens vorläufig 
nicht nach einer Losreißung, sondern nach Erhöhung ihres Einflusses 
und Nationalisierung der Verwaltung der arabischen Provinzen inner- 
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