Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Grenze schicken werde. Der Marineminister gab zwar zu, daß der 
kulturell und national fortgeschrittenere Süden — gleichviel ob christlich 
oder mohammedanisch — den Türken feindlich gesinnt sei, betonte 
jedoch, daß man die Tosken nicht zu fürchten habe. Dagegen seien 
die halbwilden Nordalbanesen fanatische Mohammedaner, die sich nie mit 
Montenegro gegen die Türken verbinden werden. Im allgemeinen behaup¬ 
ten beide Minister, daß die Türkei in einem Auslandskriege wenigstens 
vorläufig auf die mohammedanischen Albanesen unbedingt zählen könne. 
Zu Gunsten dieser Ansicht der türkischen Funktionäre läßt sich 
allerdings anführen, daß der im April d. J. bei Skutari aufgebotene 
mohammedanische Landsturm tatsächlich gegen die katholischen 
Malissoren zu Felde zog und sich auch — bezüglich seiner Ergeben¬ 
heit gegen die Regierung — bewährt hat. 
Weiters ist anzuführen, daß sich die im Vorjahre gezüchtigten 
mohammedanischen Albanesen im Vilajet Kossowo dem Aufstand der 
Malissoren nicht angeschlossen haben. Dagegen darf nicht übersehen 
werden, daß die Führer der türkenfeindlichen, nationalalbanesischen 
Bewegung — von Ismael Kemal angefangen — durchwegs Moham¬ 
medaner sind und der Orden der Bektaschi, welcher rein nationale 
Propaganda betreibt und sogar im niederen Volk viele Anhänger 
findet, gleichfalls rein mohammedanisch ist. Daß sich die Albanesen 
des Kossowo den Malissoren nicht angeschlossen haben, dürfte wohl 
weniger auf ihre religiösen Gefühle, als darauf zurückzuführen sein, 
daß sie noch nicht genügend mit Waffen versehen waren. Auch die 
Erwartung der Sultanreise dürfte auf sie eine retardierende Wirkung 
gehabt haben. Gegenwärtig sind wieder zahlreiche albanesische 
Banden in Kossowo aufgetaucht, welche sich durch Überfälle auf 
Truppen, Gendarmeriepatrouillen und einzelne türkische Offiziere 
bemerkbar machen und hiedurch alles eher als Treue gegen das 
„gemeinsame Vaterland“ dokumentieren. 
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die mohammedani¬ 
schen Albanesen, zum großen Teil selbst die niedersten Volksschichten, 
sehr gut wissen, daß ihre Urahnen Christen waren, die nur gezwungen 
zum Islam übergetreten sind. Eine natürliche Folge dieses Bewußtseins 
ist, daß die Albanesen, mit Ausnahme der Stadtbevölkerungen, im 
allgemeinen nicht fanatisch sind, wozu auch die Verschiedenheit der 
albanesischen Sprache und des albanesischen Volkstums von dem herr¬ 
schenden Türkentum wesentlich beiträgt. Die seit Erteilung der Konsti¬ 
tution außerordentlich tätige nationale Propaganda muß das religiöse 
Gefühl der Albanesen immer mehr in den Hintergrund drängen. Bei 
allen gebildeten Albanesen überwiegt demnach schon heute das 
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