Volltext: Graf Stefan Tisza

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getrübtem Bewußtsein im Geszter Kastell. Er hat von der 
Schreckensnachricht nicht mehr Kenntnis erhalten. Die Witwe, 
die den furchtbaren Schicksalsschlag nie wieder überwinden 
konnte, folgt ihrem Gatten sieben Jahre später in den Tod. 
Doch ist mit dem Tode des Grafen Stefan Tisza nicht zugleich 
auch die im ungarischen Parlament so viel apostrophierte 
„Dynastie Tisza“ erloschen. 
Wenn also auch hoffentlich kein abschließendes Glied einer 
geschichtlichen Kette, so doch abgeschlossen in sich selbst, 
beginnen sich die Konturen von Stefan Tiszas Persönlichkeit 
jetzt erst ins Unbefangene, Überlebensgroße zu weiten. Die 
parteiische Einschätzung, von der er im Leben nicht loskam 
und die ihn auch über den Tod hinaus verfolgte, beginnt zu 
schwinden, Politisches und Märtyrerhaftes verschmelzen zu 
einer höheren Einheit, gerade das Unpersönliche seines Pro¬ 
gramms ist in der Nachwirkung von starker persönlicher 
Gewalt. Noch steckt freilich dieser Klärungsprozeß in den ersten 
Anfängen. Die neuungarischen Yerklärer Tiszas, die ihn in 
Gedenkreden ehren, seinen literarischen Nachlaß herausbringen, 
.sich zur Pflege des Tisza-Kults in einem nach ihm benannten 
Klub vereinigen und kürzlich vor dem Parlament sein Monu¬ 
ment errichtet haben — eine Dimensionalschöpfung, die mehr 
dem Symbol, als dem Menschen Tisza gerecht wird —, -rekru¬ 
tieren sich vorerst noch zum größten Teil aus dem Kreis sei¬ 
ner alten politischen Anhänger und persönlichen Freunde, 
während die radikaler Denkenden auch heute noch gern mit 
dem Rechtspolitiker und dessen Einseitigkeiten hadern. Aber 
auch von den alten politischen Gegnern sind schon manche 
bekehrt. Der prominenteste Gegner Tiszas, Graf Albert Appo- 
nyi, fand vor seinem Tode noch wiederholt Gelegenheit, vor 
dem Andenken des großen Staatsmannes und Märtyrers huldi¬ 
gend die Fahne zu senken. 
Gewiß gehörte Tisza schon infolge der stark ausgepräg¬ 
ten subjektiven, streitbaren Seiten seines Programms keines¬ 
wegs zu den Unfehlbaren. Daß er mitsamt allen seinen Stär¬ 
ken und Schwächen leidenschaftlich der Sache des öffentli¬ 
chen Wohls verdungen war, wird heute von keinem Vorurteils¬ 
losen mehr bestritten. Aber es bleibt noch übrig, seine Gestalt 
aus der ganzen Folge zeitlicher Kämpfe, in deren Widerschein 
seine Züge oft verwirrt und entstellt erscheinen, emporzuhe¬ 
ben. Gewiß ist sein Vollblutungartum von seinem Wesen nicht 
loszulösen, gewiß repräsentiert er das konservative Ungarn 
Er6nyi: Graf Tisza. 
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