Volltext: Graf Stefan Tisza

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Erst Ende Juli 1915, wenige Tage vor Einrücken der ver¬ 
bündeten Truppen in Warschau, als in Wien der Text einer 
Proklamation an das polnische Volk erwogen wird, nimmt 
Tisza wieder zum Fall Polen Stellung, um diesmal den 
schwülstigen Ton des Proklamationsentwurfes ein wenig zu 
dämpfen, da ihm Redensarten wie die „Morgenröte der Er¬ 
füllung“ und „Euer Heil ist unsere Sorge“ viel zu prätentiös 
und verpflichtend für die Zukunft erscheinen. Kurze Zeit 
darauf lädt Tisza die ungarischen Oppositionsführer zu einer 
Konferenz ein, um mit ihnen die schwebenden außenpoliti¬ 
schen Fragen und darunter an erster Stelle das. polnische 
Problem zu besprechen. Wohl in der Folge dieser Unterredung 
begibt sich Graf Andrässy im Oktober 1915 nach Berlin, um 
die deutsche Auffassung zu sondieren. Tisza wittert in diesem 
Augenblick bereits für sein Projekt höchste Gefahr. Er drahtet 
an Baron Bürian: „Wie ich höre, weilt Andrässy in Berlin 
und agiert dort stark in der polnischen Frage. Es wäre sehr 
angebracht, die aufgepulverte deutsche Stimmung unserer¬ 
seits zu bremsen... Bitte, unseren Berliner Botschafter auf 
den Tatbestand aufmerksam zu' machen und ihn zu ver¬ 
anlassen, daß er keinen Zweifel darüber aufkommen lasse, 
wonach Dualismus und Parität für uns ein noli me tangere 
bilden.“ 
Schließlich aber kommt es doch anders. Am 4. November 
1916 wird in Warschau das selbständige Königreich Polen 
proklamiert, und gleichzeitig wird Galizien die Autonomie 
gewährt. Tisza hätte natürlich gegen diese Art der Bereinigung 
nichts weiter einzuwenden. Aber der deutsch-österreichische 
Konflikt auf der einen, das trialistische Geraune auf der 
anderen Seite währen doch weiter fort, und Tisza nimmt in 
einem längeren Schreiben vom 22. Februar 1917 an den 
damaligen Außenminister Grafen Czernin noch ein letztes 
Mal Anlaß, auf seinem ursprünglichen Standpunkt zu be¬ 
stehen. Er betont wieder einmal, daß das Abweichen vom 
Dualismus verhängnisvoll für die ganze Monarchie werden 
müßte: „Bei der Unsicherheit der Situation im österreichi¬ 
schen Staate, wo das deutsche Element auch nach der Ab¬ 
trennung Galiziens eine höchst unsichere Stellung einnehmen 
und sich mächtigen Strömungen gegenübergestellt finden 
würde,... müßte die Einstellung des neuen polnischen Elements 
als eines mit Österreich und Ungarn gleichwertigen dritten 
Faktors in unseren konstitutionellen Organismus ein solches
	        
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