Volltext: Graf Stefan Tisza

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Fähigkeit zur erschöpfenden Meditation niemals ledig war, 
bei Erklimmung dieses aussichtsvollen Höhepunktes nicht re¬ 
kapitulieren und revidieren, mit sich selbst und seinen vorge¬ 
faßten Anschaungen über den Weg der politischen Entwirrung 
noch einmal zu Gericht gehen, das Letzte an hemmender 
Selbstzucht aufbieten, bevor er Letztes wagt? 
Dort drüben, am anderen Ufer, im gotischen, erst vor 
Jahresfrist eingeweihten Prachtbau der ungarischen Ge¬ 
setzgebung, in dem Tisza nach wie vor den überwiegenden Teil 
seines Tagewerkes verrichtet (die Ruhe der Festung bleibt 
für Empfänge und die einsame Anstrengung der Nachtarbeit 
aufgespart), erscheint Tisza zunächst als sanfter Mann. Bei 
der Vorstellung seines Kabinetts im Magnatenhaus geht er 
von einer Antithese aus. Einerseits registriert er die selbstver¬ 
ständliche Sehnsucht breiter Volksschichten nach der unga¬ 
rischen Kommandosprache, andererseits aber zeigt er auf die 
realen Hindernisse hin und äußert die Hoffnung, daß die 
Nation doch von der weiteren Zuspitzung eines Konfliktes 
zurückschrecken werde, der das Einvernehmen mit dem Herr¬ 
scherhaus unbedingt stören müßte. Zugleich verkündet er ein 
duldsames, von „brüderlicher Liebe“ durchdrungenes Ver¬ 
halten gegenüber den Nationalitäten, deren numerisches Ge¬ 
wicht er anerkennt. Er verheißt eine Gehaltsregelung der 
Staatsbeamten, einen durchgreifenden Arbeiterschutz und die 
paritätische Wahrung der agrarischen und kommerziellen 
Interessen. 
Das alles wird vom konservativen Oberhaus mit relativer 
Ruhe und Aufmerksamkeit quittiert. Daß es im Abgeordneten¬ 
haus bei weitem nicht so behaglich zugehen werde, davon bekam 
Tisza schon den Tag vorher, bei der Hauspräsidentenwahl, 
einen deutlichen Vorgeschmack. Gewählt wurde Desider Per- 
czel, eine alte Stütze der Liberalen Partei, von Haus aus ein 
stiller, unbedeutender Mensch. In den folgenden Kämpfen soll 
er von der Opposition, die in ihrer Starrköpfigkeit jeden Sinn 
für Maß und Ziel verliert, gewaltsam zum „Haustyrannen“ 
gestempelt werden. Die Wahl vollzieht sich unter unerhörten 
Lärmszenen, der zurücktretende Apponyi wird von sämtlichen 
Regierungsgegnern stürmisch gefeiert, und der lärmende 
Empfang, der dem neuen Kabinett bereitet wird, nötigt Tisza, 
die Abgabe der Regierungserklärung um zwei Tage zu ver¬ 
schieben. 
Mit der Regierungserklärung selbst hat Tisza erst recht
	        
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