Volltext: Die Lebensbeschreibung Severins als kulturgeschichtliche Quelle (2 ; 1903)

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germanisch-romanischen Mittelalters. Als ein Mann der Tat offenbart 
er sich in der ganzen Biographie, die uns sein Schüler hinterlassen hat. 
Und dieser hat den praktischen Zug in der Natur seines Meisters auch 
mit besonderem Nachdruck gekennzeichnet, als er von ihm rühmte, 
daß er mehr durch seine Taten als durch seine Worte gewirkt habe 1 ). 
Nicht allein als Mittler zwischen den „streitenden Nationen“ 1 2 ) steht er 
vor uns, sondern auch als ein Mittler zwischen Kirche und Germanen, 
zwischen der alten und der mittelalterlichen Kirche, zwischen Orient 
und Okzident. Seinem Wesen nach gehört er zu gleichen Teilen dem 
Altertum und dem Mittelalter an. Über die „Gnadengabe der Tränen“ 
verfügt der Heilige von Norikum ebenso wie jene besonders begnadeten 
Naturen des religiös empfindsamen Mittelalters, wie ein Gregor VII. und 
ein Norbert von Premontre 3 ). Und doch ist er nicht in der Askese 
untergegangen und versunken. Die spezifisch römischen Charakterzüge, 
die bei den kirchlichen Schriftstellern des lateinischen Afrika so glänzend 
in die Erscheinung treten, die Männer wieTertullian, Cyprian und Augustin 
vor so manchen Ausschweifungen des Denkens, denen griechische und 
orientalische Kirchenlehrer erlegen sind, bewahrt haben, umleuchten 
auch die Gestalt des norischen Severin. Der Sinn für die Wirklichkeit 
und für die in strenger Zucht wurzelnde Macht der Gemeinschaft, die 
Festigkeit des Willens und dabei doch das Maß in der Ausführung, 
die Einsicht in das Mögliche, das sind Eigentümlichkeiten, die die besten 
unter der geschlossenen Form des römischen Staatslebens herangebildeten 
Individualitäten nie verleugnet haben. Über alledem ruht neben dem 
Glauben und der Glaubenszuversicht des Christen aber auch die nie ver 
siegende Heiterkeit des Philosophen. Zu zweien Malen weist Eugippius 
gerade auf diese Heiterkeit hin, einmal, als er die witzige Antwort seines 
Meisters auf die Frage nach seiner Abstammung mitteilt, das andere Mal, 
als er von ihm rühmt, daß auch zur Zeit des vierzigtägigen Fastens sein 
Antlitz von stets gleicher Heiterkeit gestrahlt habe 4 ). Mittelalterlich- 
1 ) Cap. 4, 6: factis magis quam verbis instituens animas auditorum (p. 15, 18). 
2 ) Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands 1898 I 2 352. 
3 ) Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung S. 318 f. 
4 ) Eugippii epistola 9: cui vir dei faceta hilaritate respondit: „si fugitivum putas, para 
tibi pretium, quod pro me possis, cum fuero requisitus, offere“ (p. 4, 7): Cap. 39, 2: quadra- 
gesimae vero temporibus una per hebdomadam refectione contentus aequali vultus hilaritate 
fulgebat (p. 47, 9).
	        
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