Volltext: Archäologie der Kunst [6, Hauptbd.] (Hauptb. / 1895)

Kritik und Hermeneutik. (§ 395.) 
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ist bei den Griechen seit alter Zeit Boreas eine Individualität, die von 
der schlimmsten Seite aufgefasst wird. 1 ) Der geflügelte Gott hat in den 
attischen Vasenbildern, wenn er Oreithyia raubt, als Thraker finsteres 
Aussehen, langes struppiges Haar, das sich manchmal vor Frost aufrichtet; 
weil der Wind rasch umspringt, ist ihm zuweilen ein doppeltes Antlitz 
gegeben. 2 ) Später stellt man dem wilden Boreas den jungen schönen 
Zephyros gegenüber. 3 ) In den Cyklen von Windbildern werden, wie bei 
den Musen, Attribute jedes einzelnen festgestellt, z. B. die Amphora bei 
dem regenbringenden Euros; 4 ) so sind am athenischen „Turm der Winde“ 
(S. 750) acht Gottheiten unterschieden. 5 ) Weibliche Lüfte (Aurae) soll 
Praxiteles gebildet haben. Der Thau wird zuweilen unter dem Namen 
der Eos abgebildet. 6 ) Die Nymphe Echo erkennt man in verschiedenen Nar- 
cissusdarstellungen. 7 ) 
Andere Naturpersonifikationen sind so ephemere Erfindungen von 
Dichtern, dass es am Platze ist, sie nicht ohne Warnung zu erwähnen. 
Es handelt sich um förmliche Personifikation der Berge, Hügel, Thäler 
u. dgl. 8 ) Soviel kann man zugeben, dass gelegentlich die Dichter ein 
plastisches Bild von den sitzenden Bergen und gelagerten Hügeln er 
fanden, 9 ) aber eine bestimmte und feste Personifikation der Berge und 
Hügel schufen erst die Rhetoren unter den christlichen Kaisern. Dagegen 
gehören manche bakchische Personifikationen zum Thiasos des Dionysos, 
so Akratos, 10 ) Ampelos 11 ) und Methe. 12 ) 
395. Wir gelangen nun bereits zu abstrakteren Personifikationen, 
die unmittelbar nichts konkretes an sich haben. Die älteren Exemplare 
dieser Gattung erscheinen bei den Dichtern bald im Singular bald im 
Plural. Wir meinen die Chariten, Horen, Moiren und Erinyen, überdies 
kann man auch Eros dazu rechnen. 
Wie sollten die Griechen die Chariten 13 ) anders darstellen 
denn als anmutige Mädchen? Attribute haben sie auch keine anderen 
als was mit dem Mädchenleben zusammenhängt: Rosen, Myrten, ein 
Feldbouquet, duftende Äpfel und Salbenbüchschen, Astragalos und 
Musikinstrumente. 14 ) An die Gewandung wagte sich die allegorisie- 
rende Phantasie erst nach Alexanders Zeit: Weil die Anmut keinen 
q Rapp, Roschers Lex. 1, 803 ff. 
2 ) Der in Schlangen auslaufende „Bo 
reas“ des Kypseloskastens dürfte falsch ge 
deutet sein. 
3 ) Philostr. imag. 1, 9. Von den Tieren 
hat er sich die Schwalbe erwählt (Nonn. 
Dion. 2, 133). 
4 ) Vgl. Stat. silv. 1, 6, 11; Coro feriente 
Pontum Sen. Thyest. 578. 
5 ) Silius gibt z. B. dem Africus dunkle 
Flügel (12, 617). 
6 ) Roschers Lex. 1,1258; ”EQoa Alcm. 48. 
7 ) Fr. Wieseler, die Nymphe E., Gott. 
1844; gegen Bilder der Echo Auson. epigr. 11. 
8 ) A. Gerber, Naturpersonifikationen in 
Poesie und Kunst der Alten, Lpg. 1883 
(Jahrbb. f. Phil. Suppl.); A. Schultz, dii lo- 
corum quales fuerint in arte Graecorum et 
Romanorum, Reg. 1888. 
9 ) Stat. Theb. 1, 330, vgl. 2, 380. 6, 256; 
Usticae cubantis Horat. c. 1, 17, 11; colles 
supini Verg. Georg. 2, 276. 
10 ) Paus. 1, 2, 5; Jhst. 1886 T. 62. 
u ) Dionysos’ Stütze in der S. 821 A. 4 
erwähnten Gruppe wird jetzt für weiblich 
(„die personifizierte Rebe“) erklärt (Wolters 
1494). 
12 ) In der praxitelischen Dionysosgruppe. 
13 ) Manso, über Horen und Grazien, 
Jena 1787; Furtwängler, Roschers Lex. 1, 
879 ff. 
14 ) Ältere Darstellungen werden auf das 
Relief des Sokrates zurückgeführt (S. 613); 
die älteste ist im thasischen Relief erhalten.
	        
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