Das Frühjahr 1915.
653
Er gewann damit nach seinen eigenen Worten „eine ungewohnte Entschluß-
freiheit"'). Rußland freilich kam als Feld für weitreichende, entscheidung-
suchende Operationen auch jetzt und künftig für ihn schwerlich in Frage.
Aber an der von jeher als Hauptkriegsschauplatz angesehenen Westfront
schien ihm eine auf die Kriegsentscheidung gerichtete Durchbruchs-
operation denkbar. Aus allen hierüber angestellten Erwägungen,
Berechnungen und Erkundungen schälte sich Mitte März der schon früher
ins Auge gefaßte „Stoß auf Amiens" als aussichtsvollster Plan heraus.
Mit Eifer versenkte er sich in die Vorbereitungen und hielt trotz der durch
den drohenden Kriegseintritt Italiens vermehrten Unsicherheit der politischen
Lage daran fest, noch im Frühjahr nördlich der Somme zwischen Arras
und Albert auf einer Frontbreite von etwa 25Kilometern das feindliche
Stellungssystem zu durchstoßen und dann die nördliche Anschlußfront zum
Einsturz zu bringen. Nicht leichten Herzens, aber doch mit beachtenswerter
Wendigkeit im Entschluß und schneller Anpassungsfähigkeit an die ver¬
änderte Lage nahm er Anfang April von diesem Durchbruchsplan auf
unbestimmte Zeit Abschied, als die immer stärkere Bedrohung des öfter-
reichisch-ungarischen Verbündeten an der Karpaten-Front den Einsatz des
größten Teiles der Heeresreserven auf galizischem Boden erzwang. Der
Verzicht sollte aber nicht endgültig sein; der Generalstabschef hoffte viel-
mehr, nach schneller Durchführung des operativ nach Krafteinsatz, Raum
und Zeit begrenzten Schlages im Osten doch noch in absehbarer Zeit zu
entscheidendem Handeln im Westen zu kommen.
Indessen, die unerwartete Ausdehnung und wachsende Bedeutung des
galizischen Feldzuges verschob während der nächsten Monate den Schwer-
Punkt der Kriegführung so stark nach dem Osten, daß reine Abwehr wieder
die ausschließliche, übrigens glänzend gelöste Aufgabe der bis hart an die
Grenze des Möglichen entblößten Westfront wurde. Anderseits ließen sich
die Operationen in Galizien nur weiterführen, weil es General von Falken-
Hayn gelang, den öfterreichisch-ungarischen Generalstabschef von der Rot-
wendigkeit zu überzeugen, dem neuen Feinde Italien mit einem Mindest-
maß an Kräften in starrer Verteidigung hart an der Landesgrenze ent-
gegenzutreten. Wie sehr freilich auch in dieser Zeitspanne bei General
ron Falkenhayn der Wunsch nach offensiver Betätigung auf dem westlichen
Kriegsschauplatz rege blieb, beweist seine Absicht, unmittelbar nach der Ein-
nähme von Lemberg fünf Korps aus der siegreichen Verfolgung nach dem
Westen zurückzurufen. Drei von ihnen gedachte er zur „Säuberung des
Ober-Elsaß" zu verwenden, die anderen zu Ablösungszwecken an einem kurz
zuvor hart bedrängten Frontteil im Artois. Es hält schwer, für dieses
') von Falkenhayn, a. a. O., S. 56.