Würdigung des Feldzuges gegen die Weichsel.
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längere Behauptung der Weichsel-Linie unmöglich zu machen. Damit
fiel demjenigen der verbündeten Heere, das die geringere Stoßkraft besaß,
die Hauptrolle zu . . Wie gering diese Stoßkraft war, vermochte das
Oberkommando der deutschen 9. Armee bei Beginn der Operationen aller-
dings noch nicht voll zu übersehen. Cs war noch voller Hoffnung.
Als sich die Offensive der Mittelmächte dann um Mitte Oktober auf
der ganzen Front von den Karpaten bis Warschau festgelaufen hatte,
während die Russen sich bei dieser Stadt und westlich von ihr immer mehr
verstärkten, plante die deutsche Armeeführung den Angriff über die untere
Piliza längs der Weichsel auf Warschau. Das war eine außerordentlich
kühne Durchbruchsoperation, deren Gelingen auch gegen Ende Oktober die
Gesamtlage in Polen noch retten konnte. Cs wäre dazu allerdings ein
Schlag nötig gewesen, der schnell und tief in die feindliche Front
südlich von Warschau eindrang. Ob die Kräfte auch der reichsdeutschen
Truppen nach allem, was vorangegangen war, im letzten Oktoberdrittel zu
solchem Schlage noch ausgereicht hätten, wird sich kaum sicher ent-
scheiden lassen. Da General v. Conrad die Beteiligung am Angriff nörd-
lich der Piliza ablehnte, ist er unterblieben. Cs konnte sich seitdem im
wesentlichen nur noch um hinhaltenden Kampf handeln. Diese Aufgabe
hat die deutsche 9. Armee vorbildlich gelöst. Cs war nun schon der dritte
neue Gegner, dem Generaloberst v. Hindenburg immer wieder mit den-
selben, an Zahl jedesmal unterlegenen, eigenen Truppen gegenüberstand.
Als dann schließlich die russischen Massen — volle fünf Wochen, nachdem
ihre große Anfangsoffensive in Galizien zum Abschluß gekommen war —
zu neuem entscheidenden Stoß antraten, da entzog sich der kecke deutsche
Angreifer im letzten Augenblick der drohenden Umklammerung und brachte
durch planmäßige Zerstörung von Straßen und Bahnen die Vorwärts-
bewegung der übermächtigen russischen Front alsbald wieder zum Stehen.
Die Russen haben daher den deutschen Rückzug auch keineswegs als die
Auswirkung einer Niederlage angesehen'). Die beabsichtigte entscheidende
Operation war ihnen ebensowenig geglückt, wie der kleinen deutschen Armee
ihr kühner Versuch, den übermächtigen Gegner nachhaltig zu treffen. And
doch konnte diese Armee stolz sein auf das, was sie einem an Zahl weit
überlegenen Feinde gegenüber abermals geleistet hattet.
Der Feldherrnruhm, der die deutschen Führer seit ihren Siegen in
Ostpreußen umstrahlte, hatte die Aufgabe der deutschen Armee in Polen
erleichtert. Das zeigte sich in dem fast ängstlichen Verhalten der russischen
Führung beim Weichsel-Äbergang wie später bei der Verfolgung. Immer
Danilow, 6.321. — -) Vgl, die Übersicht auf S.550.
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