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Die Weltlage im Sommer 1916
Kampfkräfte zu erhalten und die Kampfmittel zu vervielfachen. Doch
machte sich der Mangel am Nötigsten schon im Jahre 1916 außerordent¬
lich fühlbar. Er sollte im darauffolgenden „Kohlrübenwinter" zu Ent¬
behrungen führen, die sozial tiefgreifend rückwirke n mußten.
Die mit dem Kriege zusammenhängenden grundlegenden Fragen
hatten den Burgfrieden zwischen den Parteien längst zerstört und das
Reichsvolk innerlich in verschiedene Lager gespalten, deren Gegner¬
schaft durch die wirtschaftliche Not zusehends verstärkt wurde. Durch
den Schützengraben der Gleichheit in Pflicht und Opfer bewußt gewor¬
den, strebten breite Schichten immer stärker auch nach gleichen Rechten
im Staate und in der Gesellschaft: nach größerem Anteil an der Re¬
gierung, nach Hebung des Einflusses der Volksvertretung, nach Einfüh¬
rung des allgemeinen Wahlrechtes in Preußen, nach Abbau des Kriegs¬
regiments, nach Besserung der wirtschaftlichen Lage. Auf dem Gebiete
der eigentlichen Kriegführung war es vor allem die Frage des unein¬
geschränkten U-Bootkrieges, die die deutsche Öffentlichkeit nicht zur Rujie
kommen ließ. Am tiefsten allerdings wurde die deutsche Seele durch die
Kriegszielfrage aufgewühlt, die spätestens seit den ersten Kriegsweih¬
nachten nicht mehr aus dem Meinungsstreit der Parteien ausschied. Den
Anhängern des „größeren Deutschlands", die sich — von den Gegnern
als „Siegfriedler" geschmäht — aus den Kreisen der Schwerindustrie,
des Grundbesitzes und der konservativen Intelligenz, aber auch aus
anderen Schichten ergänzten, standen die „Verzichtfriedler" gegenüber,
die, meist in den Reihen der späteren „Mehrheitsparteien" stehend, einen
Eroberungskrieg bekämpften, für den Verteidigungskrieg jedoch im
Sinne der Erklärungen vom August 1914 eintraten und einem „Versöh¬
nungsfrieden" das Wort redeten. Neben diesen beiden Richtungen,
zwischen denen geraume Zeit der größere Teil des deutschen Volkes
hin- und herschwankte, begann sich schon im Jahre 1915 eine dritte be¬
merkbar zu machen, deren Träger, die spätere „Unabhängige sozial¬
demokratische Partei" (U. S. P.), jedem „imperialistischen Kriege" Fehde
ansagten, revolutionäre Ziele verfolgten und in der Schweiz (Zimmer¬
wald, Kienthal) im Vereine mit Gesinnungsgenossen aus feindlichen und
neutralen Ländern die Wiedererrichtung der zu Kriegsbeginn vernich¬
teten „Internationale" betrieben. Die revolutionärsten Elemente dieser
Richtung schlössen sich unter Karl Liebknecht, dem Verfasser der
„Spartakusbriefe", als Spartakisten zusammen, die sich am l.Mai 1916
schon auf offener Straße bemerkbar machten. Die „Unabhängigen"
waren im Reichstag schwach vertreten, gewannen aber, wie die verschie-