Das Überraschungsmoment in der sechsten Isonzoschlacht 103
Gegenangriff übergehen werde, und glaubte in der großen Bedrängnis,
in der sie sich gegenüber Rußland befand, die Sicherung der Südwest¬
front den dort belassenen, zugunsten des nordöstlichen Kriegstheaters
nicht unerheblich geschwächten Kräften ohne allzu große Sorge anver¬
trauen zu können. Bei dieser Auffassung blieb die Heeresleitung auch
dann, als um die Monatswende Juli-August das XVI. Korpskmdo. An¬
zeichen für ein größeres italienisches Angriffsunternehmen wahrhaben
mochte; sie ließ sich von ihr auch nicht abbringen, obgleich am 3. August
ein ausländischer Diplomat die Wiener Regierung ganz deutlich auf die
Möglichkeit einer unmittelbar bevorstehenden Gegenoffensive der Ita¬
liener hinwies, auch zwei Tage später die deutsche Heeresleitung das
k. u. k. AOK. wissen ließ, die Italiener seien nach zuverlässigen Nach¬
richten in der Lage, sofort vierzehn kampfkräftige Divisionen an den
Isonzo zu werfen. Die unablässig fortdauernde Spannung im Nordosten
hatte wohl keinen geringen Anteil daran, wenn die öst.-ung. Krieg¬
führung all diese Warnungen verhältnismäßig unberücksichtigt ließ.
Man lebte von der Hand in den Mund; das traf ebenso für die
Vorbereitungen gegenüber Rumänien zu wie für die Sicherheit der Front
gegen Italien. Als der Angriff am Isonzo dennoch losbrach, sah sich
der Verteidiger in einer um vieles schwierigeren Lage als je zuvor in
den früheren Schlachten.
Das italienische Heer hatte seit den Herbstkämpfen des Jahres 1915
alle Erfahrungen des Krieges weitestgehend verwertet (Bd. IV, S. 149).
Aus dem unverbrauchten Menschenvorrat des Landes aufgefrischt und
wesentlich verstärkt, mit Kriegsgerät aller Art, namentlich an Artillerie
und Minenwerfern überreich ausgerüstet, trat eine Armee zum Kampfe
an, die sich von jener der letzten Schlachten auch durch den geho¬
benen Geist und taktisches Können unterschied.
Der streng geheim gehaltene, mit Geschick und ausgezeichneter
Gründlichkeit vorbereitete Aufmarsch der starken italienischen Kräfte
am Isonzo war, ohne vom Verteidiger auch nur annähernd erkannt zu
werden, überraschend durchgeführt worden. Dies sicherte dem Auftakt
des großen Unternehmens den Anfangserfolg.
Die ersten Ziele der angreifenden italienischen 3. Armee, in deren
Bereich bis zum Beginn der Schlacht 17 Infanteriedivisionen und 1 Ka¬
valleriedivision versammelt wurden, bildeten zunächst der Görzer
Brückenkopf und der Abschnitt des Mt. S. Michele. Vor dem etwa 9 km
umfassenden Görzer Brückenkopf waren vier Divisionen in erster Linie
und zwei in Reserve aufmarschiert; die vordersten Angriffsstaffeln wur¬