Volltext: Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen. Zweither Teil: Aus Konrad Deubler's Briefwechsel (1848-1884). (2)

Deubler und Rau. 
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nisse berechtigen mich, ja zwingen mich, so zu thun, wie ich bin. Das 
Übrige besorgen die religiösen Tröstungen und Illusionen, welche 
auf der einen Seite den Menschen zum „stinkenden Madensack“ 
(nach Luther) machen, und auf der andern Seite zum besondern Objekt 
Gottes u. s. w.e). Ich denke, Sie werden mich verstanden haben; 
) Anmerk des Herausgebers. Die Lehre vom freien Willen ist 
in Folge der Erweiterung naturwissenschaftlicher Kenntnisse neuerdings 
Gegenstand lebhaftester Erörterungen geworden und die Männer der Kirche 
haben mit Entsetzen darauf hingedeutet, daß die moderne Naturwissen⸗ 
schaft im Begriffe stehe, den freien Willen zu leugnen und alles Thun 
und Lassen des Menschen als ein Naturnothwendiges zu deklariren, wo— 
durch — so behauptet die Kirche — alle Grundsätze der Moral über den 
Haufen gestoßen werden müßten. Haben denn jene übereifrigen Wächter 
der Moral vergessen, daß die Gottesgelehrten der monotheistischen Religionen 
sich durch Jahrhunderte, ja sogar durch Jahrtausende über dasselbe Thema 
in allerheiligstem Eifer gestritten haben? Spielte nicht die Lehre von der 
Gnadenwahl (Prädestination) gerade zur Zeit der Reformation eine 
Hauptrolle in den Streitigkeiten zwischen Luther, Zwingli und Calvin? 
Ist der Streit über die Auslegung des Wortes: „Viele sind berufen, 
Wenige aber auserwählt“ etwa heute geschlichtet? Und hat nicht gerade 
die Prädestinationslehre, wie sie in Calvin ihren Hauptvertreter gefunden 
und bis heute noch von verschiedenen Konfessionen und Sekten innerhalb 
der christlichen Kirche festgehalten wird, dieselbe Verneinung des freien 
Willens zum Hauptinhalt, aber eine viel gefährlichere, verzweifeltere Unter— 
lage als bei den naturwissenschaftlichen Verneinern? Hunderte von Gläubigen 
haben sich über der Prädestinationslehre den Kopf zerbrochen und sind 
fast regelmäßig ins Irrenhaus gewandert oder — in selbstmörderischer 
Absicht — in's Wasser gesprungen. Das hat Voltaire bestimmt, in seiner 
Art sich gegen jene Lehre auszusprechen, wie in seinem „Dictionnaire 
philosophique“ (Abschnitt von der „Gnadenwahl“) zu lesen: 
„Der Kaiser Mulei Ismasl von Marokko hatte, wie man sagt, 1500 
Söhne. Was würdet ihr nun sagen, wenn ein Marabut (muhamedanischer 
Pfaffe) vom Berge Atlas euch erzählte, der weise und gute Mulei Ismaöl 
habe einmal seine ganze Familie zum Essen um sich versammelt und 
gegen das Ende der Mahlzeit also gesprochen: 
Ich bin Mulei Ismael und habe euch gezeuget zu meiner Herrlich— 
keit (Esaias XLIII. 7); denn ich bin sehr herrlich. Ich liebe euch Alle 
zärtlich und trage Sorge für euch, wie eine Henne ihre Küchlein birgt 
unter ihre Flügel (Matth. XXIII. 37). Ich habe beschlossen, daß einer 
meiner jüngeren Söhne das Königreich Talifet bekommen und ein anderer
	        
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