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Dem Niedergang entgegen
Die große Offensive der Deutschen im ersten Halbjahr war von dem
Gedanken getragen, auf den Schlachtfeldern des Westens die Kriegs--
macht Frankreichs und Englands niederzuwerfen, bevor die Vereinigten
Staaten von Amerika mit ihrer ganzen, unverbrauchten Kraft auf der
Walstatt erscheinen konnten. Diese Zwangslage Deutschlands, das seine
mit aller Anspannung erreichte Überlegenheilt innerhalb' 'einer begrenzten
Frist ausnützen mußte, erkannten auch die Westmächte. Für sie galt es
daher, über die kritische Zeitspanne hinweg zu kommen, denn eine un¬
anfechtbare Rechnung ergab, daß sich auf Seite der Entente mit Hilfe
der Amerikaner um die Jahresmitte zunächst das Gleichgewicht, später
das Übergewicht der Kräfte einstellen mußte1). Die Wartefrist unter¬
warf Staatslenker und Heerführer einer harten Probe; jedoch der große
Rat der Alliierten war sich bewußt, daß Sieg oder Niederlage nur eine
Frage der Seelenstärke war2).
Unter den Keulenschlägen der Deutschen wankten die Fronten be¬
denklich; Paris und die Kanalhäfen, die Basis der Engländer, schienen
bedroht. Die Abwehr verschlang viele Truppen, so daß der französische
Oberbefehlshaber, Gen. Pétain, wie der britische, FM. Haig, iin ernster
Sorge waren, wie sie ihre zerschlagenen Divisionen wieder auffüllen soll¬
ten, denn die Ersätze reichten nicht mehr ;aus3). Dem Menschenmangel
der Westmächte vermochte nur der Zustrom aus Amerika abzuhelfen.
Die ausgeschifften Truppen waren aber nicht sofort verwendbar; sie be¬
durften noch einer längeren Schulung, zumal da sie größtenteils erst in
Europa Geschütze, Flugzeuge und anderes Kriegsgerät, hauptsächlich aus
englischen ¡oder französischen Werkstätten, empfingen4). Auch wehrte
sich der Oberbefehlshaber der Amerikaner, Gen. Pershing, gegen einen
allzu verzettelten Einsatz seiner Streitkräfte.
Bis Mitte Juni hatten die wuchtigen, erfolgreichen Angriffe der
Deutschen in Frankreich einen tiefen Eindruck von der kriegerischen Stärke
des Gegners erzeugt. Gleichwohl nahm der Ententefeldherr Foch unter
seinen Vorsorgen, um dem nächsten, bestimmt zu erwartenden Ansturm
*) Foch, II, 115. — Haig, England an der Westfront (Berlin 1925), 253.
2) Lloyd-George, War memoirs, VI (London 1936), 3084.
3) Foc h, II, 75 ff. — Ha i. g, 250. Eine Anzahl britischer Divisionen wurde nach
den verlustreichen Frühjahrskämpfen aufgelöst.
4) Churchill, Weltkrisis 1916—18 (Leipzig-Wien 1928), II, 187 ff. — Die
Ausrüstung mit Waffen europäischer Herkunft erfolgte einerseitsi aus dem Grunde,
um den verfügbaren Schiffsraum für die Beförderung von Kämpfern voll auszuwerten,
andererseits weil auch die Industrie der Vereinigten Staaten gar nicht so leistungs¬
fähig wie die Rüstungsindustrie der alten Welt war (Lloyd-George, V, 3062 ff.).