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Von Gorlice bis Lemberg
wenn die Konferenz zu Cholm unter solch trüben Eindrücken zu dem
Entschlüsse kam, den Gedanken des Eroberungskrieges, der im August
1914 auf die Fahnen des Zarenreiches geschrieben worden war, bis auf
weiteres zurückzustellen, und dem Muschik nur mehr die Verteidigung
der heimatlichen Scholle auf die Seele zu binden, jenes vaterländischen
Bodens, den unversehrt zu erhalten der Zar zu Kriegsbeginn, gleich seinem
Ahnen von 1812, vor der Mutter Gottes von Kasan beschworen hatte.
Bei der Ausführung dieser Absichten galt die Hauptsorge der Siche¬
rung des Weichsellandes, wo die Front noch immer weit nach Westen
vorsprang und in beiden Flanken bedroht war, und der Deckung der
dorthin aus Ostpreußen und Ostgalizien führenden Verbindungen. Diesem
Ziele sollten stärkste fortifikatorische Ausgestaltung der Deckungsräume
und das Ausscheiden möglichst zahlreicher beweglicher Reserven dienen;
besondere Beachtung war hiebei den Gegenden von Grodno—Bjelostok
und Cholm—Kowel zu widmen. Mit diesem Entschlüsse war auch die
Wahrscheinlichkeit einer Preisgabe von Lemberg ins Auge gefaßt. In
diesem Falle sollten alle Streitkräfte, die auf die Front Lublin—Cholm—
Wladimir-Wolynski zurückgingen, unter die Befehle Alexejews treten,
indes Iwanow nur das Kommando über die gegen den Kiewer Militär¬
bezirk weichenden Armeen zu behalten hatte1).
War solcherart die Preisgabe Ostgaliziens grundsätzlich beschlossen,
so ist es doch zu verstehen, wenn sich der Großfürst-Generalissimus
und seine Unterführer die Ausführung jedes einzelnen Schrittes zur
Verwirklichung der Cholmer Beschlüsse vom Schicksal abzwingen ließen.
Auch die Räumung der Etappe und die Vorbereitung neuer Abwehrlinien
nötigte zu einem möglichst zähen und langsamen Nachgeben.
Am 19. verfügte die Stawka die Rücknahme des noch im Mün¬
dungswinkel des San stehenden rechten Flügels der 3. Armee hinter den
Fluß; im Einklang damit hatte die 4. Armee ihren Südflügel auf Zawichost
zurückzubiegen, wodurch auch die Ausscheidung von Reserven möglich
werden mochte. Während diese Befehle erteilt wurden, fochten die
Truppen Brussilows und Olochows sowie die an ihren inneren Flügeln
eingesetzten Reiterdivisionen mit verzweifeltem Mute um die Höhen
östlich von der Wereszyca und auf der Bodenwelle, die das Bug-Styrbecken
im Südwesten abschließt. Als aber in der folgenden Nacht kein Zweifel
mehr bestehen konnte, daß die aus dem XXVIII. und dem VIII. Korps
bestehende Gruppe des Gen. Kaschtalinski die Position Rawa Ruska—
i) Danilow, 512 f. ; Nesnamow, IV, 54 f. ; Boncz-Bru jewitsch, V,
183 f.; Zajontschkowskij, 306 f.