Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

sehen Erörterungen — auf: Haben denn die Menschen den Welt¬ 
krieg gewollt, ihn tatsächlich bejaht? Unsere Antwort lautet: J a. 
Unsere Selbsterkenntnis fordert diese Feststellung von uns. Wir ver¬ 
kennen die massenpsychologischen Stimulantia einer (mit verschwin¬ 
denden Ausnahmen) kriegshetzerischen Presse ebensowenig wie die 
offiziell hochgezüchtete Gesinnung, welche den Krieg als »Stahlbad der 
Nerven und Nationen« verherrlichte. Aber trotz allem dürfen wir nicht 
die primäre Tatsache der Kriegsbegeisterung außer acht lassen, die beim 
Kriegsausbruch in allen kriegführenden Ländern so eruptiv zum Ausdruck 
kam. Immerhin mag Emil Ludwig18) recht haben, wenn er behauptet, daß 
drei fähige Staatsmänner den Krieg hätten verhüten können. Doch das 
führt uns schon zum Führerproblem hinüber und damit zwangsweise zur 
massenpsychologischen Würdigung des Krieges. Es wird im allgemeinen 
die Ansicht vertreten, daß wir heute in einer Epoche der kollektiven 
Massenkräfte leben, wo die über geschichtlichen Helden von Carlyle nichts 
mehr zu suchen haben. Allein Massenpsychologie und Führerpersönlich¬ 
keit sind zwei Aspekte des einen Phänomens: der Wirkung des Einen auf 
die Vielen. Und so ist der Krieg als Ereignis von übermenschlichen 
Dimensionen vornehmlich geeignet, über Massenpsychologie und Führer- 
tum Beobachtungen zu gestatten. Auch in dieser Beziehung hat uns die 
Psychoanalyse, das heißt Freud, entscheidende Aufschlüsse gegeben. Wir 
sahen, daß die Strukturbeschaffenheit der Einzelseele die Bereitschaften 
für kriegerische Tendenzen latent in sich trägt, doch wollen wir hier der 
Rolle gedenken, die nach allgemeiner Auffassung den massenpsycho¬ 
logischen Faktoren zukommt. Vor Freud galt es scharf zwischen Indi¬ 
vidual- und Massenpsychologie zu unterscheiden. Man beschrieb die 
Eigenschaften der Massen (G. Le Bon, »Psychologie des foules«) und man 
stellte fest, daß sie 
Züge, die von denen 
der Einzelperson we¬ 
sentlich ab weichen, 
zum Ausdruck bräch¬ 
ten. Es sind haupt¬ 
sächlich gesteigerte 
Affektivität und ver¬ 
minderte Intellektu- 
alität, welche als 
vorherrschende Züge 
Einerseits um die Mannschaft bei guter Laune zu erhalten, 
andererseits um die Frauen mehr in den Dienst des Vaterlands 
zu stellen, wurde in den französischen Kasernen die Besuchszeit 
über Nacht ausgedehnt. 
Aus »Der Faun«, Wien, 1916 
jeder Massenbildung 
zugeschrieben wor¬ 
den sind. Doch 
war dieses mystische 
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