Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

lieh!« ausstieß, empfanden und riefen Millionen wie er. Und der Kauf¬ 
mann, der in den Tagen der Mobilmachung in den Wiener Straßen eine 
Rede hielt und meinte, ohne den Krieg wäre alles zusammengebrochen, 
der Friede aber einfach nicht mehr zu ertragen gewesen, sprach gleich¬ 
falls aus der Seele aller. Alle sprachen von einem unerträglichen Druck, 
der auf der Welt gelastet hatte und mit dem Kriegsausbruch urplötzlich 
gewichen war. Was war dieser Druck und warum war er unerträglich? 
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir in das dunkle 
Reich der Instinkte hinabsteigen. Denn es waren durchwegs Instinkte, 
die in der Kriegsbegeisterung, in der Freude am Krieg, der ihnen un¬ 
gehemmte Erfüllung verhieß, zum Ausbruch kamen. Vor allem der 
Kampfinstinkt, die Lust am Blute, ein uraltes Erbe der Menschheit. Wie 
dieser Trieb mit dem Kriege zusammenhängt, erklärt Prof. Nicolai: 
. . . Allmählich wurde eine Möglichkeit nach der anderen, diese Lust 
(am Blute) zu befriedigen, dem Menschen genommen und im achtzehn¬ 
ten Jahrhundert kamen so gut wie alle Methoden der legitimen Men¬ 
schentötung außer Gebrauch. Das arme Volk starb allerdings auch 
weiterhin für die Flochgeborenen, aber es starb schweigend und nicht 
mehr in der Arena . . . Nur in einigen Resten erhielten sich die offi¬ 
ziellen Blutschauspiele: in Spanien gab es noch Stierkämpfe, in Eng¬ 
land boxten die Matrosen, in 
Deutschland schlugen sich die 
Studenten, in Rußland gab es 
verschiedene Sekten, welche 
sich oder ihre Kinder töteten 
(zum Beispiel die Soschigateti 
und die Sekte der Spassow 
Sogolassie), aber im großen 
und ganzen war doch durch die 
Erfolge der französischen Re¬ 
volution (die sich charakte¬ 
ristischerweise allerdings auch 
in einer großen und überflüs¬ 
sigen Menschenschlächterei do¬ 
kumentiert hatte) die Möglich¬ 
keit in Europa ausgeschlossen, 
die tief eingewurzelten Blut¬ 
instinkte der Menschheit zu 
befriedigen. Nur der Krieg 
blieb, und auf ihn konzen¬ 
trierten sich all diese uralten 
Triebe1). 
Europa auf dom wilden Stier 
Zeichnung von G. Finetti 
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