Zweites Kapitel
EROTIK UND TRIEBLEBEN BEI KRIEGSAUSBRUCH
Die Hurrabegeisterung und ihr libidinöser Hintergrund — Abschwächung
oder Steigerung des Geschlechtstriebes bei Kriegsausbruch? — Der Krieg
im Lichte der Soziologie und der Psychoanalyse
Keiner, der sie zu erleben verdammt war, wird sie jemals vergessen,
jene Tage des entfesselten Kriegstauniels, da die Massen johlend die
Straßen der Städte überfluteten, zu rasender Wut auf gestachelt, eine
Bestie mit hunderttausend Pranken, bereit, sich auf einen niegesehenen
Feind zu stürzen, Tod und Verderben über ihn zu bringen. »Sonderbar,
sonderbar war jene Sommernacht; niemals war der Mensch kleiner ge¬
wesen, als damals im Sommer«, sang ein Dichter, dessen Augen sehend
geblieben waren.
Man erweist dem Pazifismus keinen guten Dienst, wenn man den Massen-
paroxismus der ersten Kriegstage auf allzu praktische Motive zurückzu¬
führen sucht. Zweifellos waren unter den Tausendstimmigen, die in Paris
den Marsch auf Berlin, in Berlin die Vernichtung Frankreichs, in Wien
und Budapest den
Tod Serbiens forderten,
auch gedungene Brül¬
ler, bezahlte Agenten
der Kriegspropaganda.
Zweifellos wurde im
Wirrwarr der antifeind¬
lichen Straßentumulte
ausländisches Eigen¬
tum nicht nur zer¬
trümmert, sondern auch
gestohlen. Zweifellos
zogen mit den hurra¬
schreienden Scharen
auch Jugendliche, in
keinem Großstadtmob
Zeichnung von M. Rodiguet in »Le Rire rouge«, 1917
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