Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

kräften und dort ist es auch am ärgsten zugegangen. In vielen, allzu 
vielen Fällen sah sich die weibliche Hilfskraft Vorgesetzten gegenüber, 
die ihre Dienststellung in sexueller Beziehung hemmungslos ausnützten. 
Es gab natürlich auch Ausnahmen, aber ehrenhafte Kommandanten, die 
in der weiblichen Hilfskraft den Menschen und nicht »das Mensch« 
sahen, waren weiße Raben. Der Hauptgrund für die völlige Wehrlosig¬ 
keit der weiblichen Hilfskräfte gegenüber der Verführung ist wohl in 
der materiellen Abhängigkeit der Mädchen von dem Offizier zu suchen, 
der sie mit einem Federstrich in die hungernde Großstadt zurück jagen 
konnte. Außerdem muß man sich in die erschütterte seelische Ver¬ 
fassung der Mädchen hineindenken: wenige Frauen unter sehr vielen 
Männern, die Familie ist aufgehoben, es gibt kein Heim mehr, es ist 
Krieg, niemand kennt einen, alle Herren sind Kavaliere, man verkehrt 
nur mit Offizieren und zu Hause war man vielleicht in einem viel nie¬ 
drigeren sozialen Milieu. Man hatte Mädchen von ganz verschiedener 
Art in Situationen gebracht, denen auch charakterstarke Frauen nicht 
gewachsen wären. Denken wir doch nur daran, was das Militär aus den 
Zivilisten vielfach gemacht hat. Wie Leute kleinsten, aber auch 
größeren Formats durch den Leutnantsstern, der ihnen auf gepickt 
wurde, plötzlich von Größenideen absurdester Art beherrscht wur¬ 
den und im Bannkreis der militärischen Ideologie Vernunft, Ver¬ 
stand und Charakter verloren, darf man sich da wundern, daß es bei 
jungen, unerfahrenen Mädchen nicht anders war? 
Im Laufe des Jahres 1917 bildete sich all¬ 
mählich eine eigentümliche Form der sexu¬ 
ellen Beziehungen zwischen den weiblichen 
Hilfskräften und den Offizieren aus, eine 
Form, wie man sie seit den Tagen des Dreißig¬ 
jährigen Krieges nicht mehr gekannt hat. Die 
Stellung der weiblichen Hilfskräfte mitten 
zwischen tausenden erotisch ausgehungerten 
Männern hatte abenteuerliche Gemeinschafts¬ 
formen zur Folge. Ende 1917 war es bereits 
vielfach üblich, daß Frontoffiziere nicht mehr 
nach Hause auf Urlaub fuhren, sondern in 
einen größeren Etappenort, da dort größere 
Ausschweifungsmögliehkeiten waren als selbst 
in dem legendären Budapest. Übrigens eine 
Erscheinung, die infolge der langen Kriegs¬ 
dauer bei allen Armeen zu beobachten war. 
Für die gesamte deutsche Westfront war zum 
Beispiel Brüssel solch ein Capua, wo die 
»Mein Mann macht mir fürchterliche 
Szenen, obwohl ich ihm gedroht habe 
wegzugehen.« 
»Droh’ ihm, daß du bleibst.« 
Zeichnung von Haye 
in »Vie de Garnison« 
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