Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

Beobachtungen im Felde. Wem es allerdings nicht gegeben ist, 
wer nicht den zielsicheren Blick für das Typische des Urningtums 
besitzt, der sieht auch nichts, selbst wenn der Homosexuelle neben 
ihm sitzt. 
Daß viele Leute den Eindruck gewinnen, es gäbe prozentual mehr 
homosexuelle Offiziere als urnische Mannschaften, hat seinen Grund 
lediglich darin, daß der Offizier infolge seiner exponierten Stellung 
viel häufiger in eine Affäre verwickelt wird als der einfache Soldat. 
Ich meinerseits habe so viel Homosexuelle gerade unter den einfachen 
Soldaten gesehen, daß ich der festen Überzeugung bin, es gibt unter 
ihnen prozentual die gleiche Anzahl wie unter den Offizieren. Es ist 
ja zugegeben: der Offiziersberuf hat sicherlich für den Urning viel 
Anziehendes, aber er hat auch ganz erhebliche Schattenseiten, denn 
in ihm ist die goldene Freiheit, die Unabhängigkeit nur sehr gering. 
Unter den Unteroffizieren gibt es weniger Homosexuelle. Dieser 
Beruf liegt dem Urning nicht. Was ich an urnischen Unteroffizieren 
sah, waren verabschiedete Offiziere, die sich bei Kriegsausbruch als 
Gemeine gestellt hatten und allmählich wieder avanciert waren. Ich sah 
nur einen aktiven homosexuellen Feldwebel, der sich als solcher auf 
einer Unteroffiziersschule befand und recht zufrieden mit seiner 
Stellung war1). 
Ein anderer Kriegsteilnehmer gibt über die Zahl homosexueller Sol¬ 
daten in der Garnison folgende Schätzung: 
Was die Verbreitung der Homosexualität in der Garnison betrifft, 
so kann ich meine Erfahrungen dahin zusammenfassen, daß der Pro¬ 
zentsatz 2 auf 100 mir zu hochgegriffen erscheint. Mir ist von den 
150 Kameraden, mit denen ich zusammen in der Garnison war, und die 
ich näher kannte, nur einer der Homosexualität verdächtig gewesen. 
Diese 150 waren aus allen Berufszweigen Berlins zusammengesetzt. 
Allerdings sind ja 150 Beobachtungen eine verschwindende Anzahl 
gegen Tausende, mit denen zum Beispiel Dr. Hirschfeld bei seinen 
statistischen Untersuchungen rechnen konnte. Außerdem bin ich mir 
bewußt, wie schwer es oft ist, jemanden als homosexuell zu bezeichnen, 
von dem man nicht die persönliche Bestätigung seiner Veranlagung 
hat2). 
Der Ausbruch des Krieges hat jedenfalls die merkwürdige Erscheinung 
gezeitigt, daß sich auffallend viel Homosexuelle mit heller Begeisterung 
ins Heer drängten und freiwillig zum Militärdienst meldeten. Es gab unter 
ihnen eine große Anzahl solcher, die die ständige Drohung des Para¬ 
graphen 175 und die gesellschaftliche Ächtung der gleichgeschlechtlichen 
Liebe in Deutschland vor dem Kriege gezwungen hatte, ins Ausland aus¬ 
zuwandern. Über diese erfahren wir aus den Komiteeberichten: 
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