Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

notläufig zur Annahme einer 
unbewußten Psyche führen 
mußte*). Gerade dieser Er¬ 
kenntnis halber können wir 
in der Psychoanalyse eine Art 
Ergänzung des historischen 
Materialismus sehen, der uns 
auch zum Verständnis des 
Krieges den Schlüssel geben 
wird. Die Psychoanalyse sagt 
nämlich in bezug auf das In¬ 
dividuum dasselbe aus, was die 
materialistische Geschichtsauf¬ 
fassung für das Leben der Ge¬ 
sellschaft feststellt: hier wie 
dort sind unterbewußte Beweg¬ 
gründe wirksam, die in einer 
Einzelhandlung (dort in den 
Taten des Individuums, hier 
in einem historischen Ereig¬ 
nis) die Maske verschiedener 
Scheinmotive annehmen, die 
allein ins Bewußtsein treten. 
Wir wollen hier an einen 
Gedanken Hegels erinnern. 
Die nach ihrer Selb st Verwirk¬ 
lichung und Selbsterfüllung 
trachtende Idee bediene sich zu ihrem Zwecke der »List der Vernunft«, 
die darin bestehe, daß die »Idee« individuelle Leidenschaften zu ihrem 
Zwecke entfessele, sich dadurch verwirkliche, wobei aber das Mittel, durch 
das sie sich verwirklicht hat, verloren gehe6). Und Engels sagt: 
Die Geschichte . . . macht sich so, daß das Endresultat stets aus den 
Konflikten vieler Einzelwillen hervor geht, wovon jeder wieder durch 
eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was 
er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine 
unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resul¬ 
tante — das geschichtliche Ereignis — hervorgeht, die selbst wieder 
als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos 
wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder 
Kaiser Franz Joseph als Ballerine 
Französische Postkarte aus der V orkriegszeit 
Sammlung A. Wolff, Leipzig 
*) »Mit der Annahme unbewußter Seelenvorgänge (ist) eine entscheidende Neu¬ 
orientierung in Welt und Wissenschaft angebahnt.« (Freud, Vorlesungen zur Einführung 
in die Psychoanalyse, Erster Teil, I. Vorlesung.) 
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