Geschichte des Vernagtgletschers.
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Die Geschichte dieser muss nun auch hier kurz wiederholt werden.
Das erste uns bekannte Anwachsen des Gletschers wurde im
Jahre 1599 bemerkt. Wir haben darüber einen Bericht vom 9. Juli 1601
aus den Fuggerschen Korrespondenzen, welche in der k. Hofbibliothek
in Wien auf bewahrt werden (abgedruckt Zsch. A.Y., 1877, S. 166);
ferner eine Aufzeichnung von 1683, am vollständigsten wiedergegeben
von Senn, „Der Vernagtferner“, S. 9.
Im Frühsommer 1601 wurde die im Rofenthal gelagerte Eis
masse als ein 700 m langer, 300 m breiter und 200 m hoher Damm
geschätzt, der angestaute See war 1250 m lang, 350 m breit und an
geblich 120 m tief. Sind die Masse richtig, so müsste derselbe da
mals bis nahe an das Ende des Hintereisgletschers gereicht haben,
also weiter aufwärts als beim letzten Ausbruch.
Am 20. Juli 1601 floss der See ab und verheerte das ganze
Oetzthal, besonders das Becken von Lengenfeld in fürchterlicher
Weise. Im nächsten Jahre füllte sich der See wieder, floss aber
allmählich ab, ohne Schaden zu verursachen.
Die nächste Vorstossperiode begann 1676. Wir sind über die
selbe durch die oben erwähnte Aufzeichnung von 1683 und andere
gleichzeitige Notizen, welche ein gewisser Benedikt Kuen zu Lengen
feld 1715 zusammenstellte, unterrichtet. Im Herbst 1677 erreichte
das Eis die Sohle des Rofenthales und die Anstauung des Sees begann.
Am 17. Juli 1678 brach derselbe aus und die Verheerung war so
gross, dass einige Strecken des Oetzthales — die Enge zwischen
Sölden und Huben bei Winkel — aufhörten, bewohnbar zu sein, da
gleichzeitig durch Gewitter ein Hochwasser des Fischbaches bei Lengen
feld hervorgerufen wurde. Ein Vagabund, der einen der arg mitge
nommenen Bauern kurz vorher wegen verweigerter Aufnahme bedroht
hatte, wurde als Veranlasser des Unheils ergriffen und in Meran ver
brannt (Stotter S. 20).
In den Jahren 1679, 1680 und 1681 bildete sich der See von
neuem, floss alljährlich im Hochsommer ab, richtete aber nur am
Veitstage (15. Juni) des Jahres 1680 Schaden an. Im Jahre 1681
war die Eismasse im Rofenthal — welche anfangs furchtbar zerklüftet
war — bereits wieder kompakt und viel niedriger geworden, so dass
12 Lengenfelder in 2 x /2 Tagen eine Rinne ins Eis hauen konnten,
den Wasserstand des Sees, der damals eine Stunde lang gewesen sein
soll, zu erniedrigen. In 4 Tagen sank dann der Spiegel um 8 m.
Die letzten Eisreste in der Sohle des Rofenthales verschwan
den 1712.
Ueber die nächste Vorrückungsperiode, welche 1770 begann,
sind wir durch ein Buch des Jesuiten Joseph Walcher, Professor der
Mechanik an der Wiener Universität, unterrichtet, welcher im Jahre 1772
im Auftrag der Regierung den Schauplatz besucht hatte. Ausserdem
'existieren mehrere Kommissionsprotokolle, aus denen Stotter Daten
mitteilt. „Viele Jahre“ vorher soll der Kesselwandferner (= Guslar-
ferner) zu wachsen angefangen haben; erst später gesellten sich „andere
Ferner“ dazu, und im Frühling 1770 begann die grosse Vorrückung.
Sie betrug bis zum Herbst über 200 m; im Jahre 1771 dauerte sie
Richter, Die Gletscher der Ostalpeu. 10