Volltext: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin (1 / 1919)

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hängen. Gelingt es dem Minister in diesem bedeutsamen Augen¬ 
blick, in dem zweifellos trotz aller inneren Spaltungen die gesamte 
britische Nation hinter ihm steht, durch unser Eingehen auf sein 
Bitten eine weitere Zuspitzung der Lage zu verhindern, so stehe ich 
dafür ein, daß unsere Beziehungen zu Großbritannien auf unabseh¬ 
bare Zeit den vertrauensvollen und intimen Charakter tragen wer¬ 
den, der sie seit anderthalb Iahren kennzeichnet. Die britische Re¬ 
gierung, ob liberal oder konservativ, sieht in der Erhaltung des 
europäischen Friedens auf Grundlage des Gleichgewichts der Grup¬ 
pen ihr vornehmstes Interesse4, und die Überzeugung, daß es ledig¬ 
lich von uns abhängt, ob Österreich durch eine hartnäckige Prestige¬ 
politik den europäischen Frieden gefährdet, bringt es mit sich, daß 
jede entgegenkommende Haltung Österreichs als ein Beweis unseres 
aufrichtigen Wunsches, mit Großbritannien vereint einen 
europäischen Krieg zu verhindern, zugunsten unserer Freundschaft 
mit England und unserer Friedensliebe gedeutet werden wird. 
Sollten wir hingegen unseren Sympathien für Österreich und 
der Korrektheit unserer Bundesverpflichtungen eine so weitgehende 
Auffassung zugrunde legen, daß alle übrigen Gesichtspunkte dagegen 
zurücktreten, und sogar den wichtigsten Punkt unserer Auslands¬ 
politik — unser Verhältnis zu England — den Sonder int eressen 
unseres Bundesgenossen unterordnen, so glaube ich, daß es niemals 
mehr möglich sein wird, diejenigen Fäden wieder anzuknüpfen, 
welche in der letzten Zeit uns verbunden haben. 
Der Eindruck greift hier immer mehr Platz, und das habe ich 
aus meiner Unterredung mit Sir Edward Grey deutlich entnommen, 
daß die ganze serbische Frage sich auf eine Kraftprobe zwischen 
Dreibund und Dreiverband zuspitzt. Sollte daher die Absicht 
Österreichs, den gegenwärtigen Anlaß zu benutzen, um Serbien 
niederzuwerfen (to crush Servia, wie Sir E. Grey sich ausdrückte), 
immer offenkundiger in Erscheinung treten, so wird England, dessen 
bin ich gewiß, sich unbedingt auf Seite Frankreichs und Rußlands 
stellen, um zu zeigen, daß es nicht gewillt ist, eine moralische oder 
gar militärische Niederlage seiner Gruppe zu dulden. Kommt es 
unter diesen Umständen zum Krieg, so werden wir England gegen 
uns haben. Denn die Empfindung, daß der Krieg angesichts des 
weitgehenden Entgegenkommens der serbischen Regierung sich hätte 
vermeiden lassen, wird für die Haltung der britischen Regierung von 
ausschlaggebender Bedeutung sein. 
Lichnowsky 
1 Nach der Entzifferung. 
1 Aufgegeben in London 27. Juli 5® nachm., angekommen im Auswärtigen 
Amt 840 nachm. Eingangsvermerk: 28. Juli vorm. 
3 Siehe Nr. 258. 
4 Am Rand der Entzifferung die Bemerkung Zimmermanns: »Wo bleibt 
das Gleichgewicht, wenn Österreich-Ungarn zurückweicht!« 
Aktenstücke I.
	        
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