Volltext: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin (1 / 1919)

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Die erste Voraussetzung für eine derartige Politik müßte aber 
ein klares Programm sein, das auf der Erkenntnis beruht, daß der 
heutige staats- und völkerrechtliche Zustand innerhalb der serbo¬ 
kroatischen Völkerfamilie, der einen Teil dieser nur durch die Re¬ 
ligion, nicht aber durch die Rasse gespaltenen Nation dem öster¬ 
reichischen, einen anderen dem ungarischen Staat, einen dritten 
der Gesamtmonarchie und einen vierten und fünften endlich unab¬ 
hängigen Königreichen zuweist, auf die Dauer nicht haltbar ist. 
Denn das Bestreben, den geheiligten Status quo aus Bequemlich¬ 
keitsgründen unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, hat schon 
oft und so erst bei der jüngsten Balkankrise zu einem völligen 
Zusammenbruch des auf diesen Grundlagen erbauten politischen 
Kartenhauses geführt. 
Zunächst bezweifle ich nun, daß in Wien ein großzügiger Plan, 
der allein die Grundlagen einer dauernden Regelung der südslawischen 
Frage bieten würde, ich meine den Trialismus mit Einschluß Serbiens, 
gefaßt worden ist. Nach meiner Kenntnis der dortigen Verhältnisse 
glaube ich auch gar nicht, daß man in der Lage ist, eine derartige 
staatsrechtliche Umgestaltung der Monarchie in die Wege zu leiten. 
Denn es wäre hierzu vor allem der Widerstand Ungarns zu über¬ 
winden, das sich gegen eine Abtretung von Kroatien mit Fiume 
auf das Äußerste wehren würde. Zur Durchführung eines der¬ 
artigen Programms fehlt es in Wien auch an der hierzu geeigneten 
kraftvollen Persönlichkeit. Man sucht dort vielmehr meist nur den 
Bedürfnissen des Augenblicks zu genügen und ist froh, wenn die 
vielen politischen Schwierigkeiten, die niemals aussterben, da sie 
sich aus der Verschiedenartigkeit der Zusammensetzung des Reiches 
ergeben, so weit behoben sind, daß Aussicht besteht, wieder einige 
Monate fortwursteln zu können. 
Eine militärische Züchtigung Serbiens hätte daher niemals den 
Zweck oder das Ergebnis einer befriedigenden Lösung der so über¬ 
aus schwierigen südslawischen Frage, sondern bestenfalls den Erfolg, die 
mühsam beigelegte orientalische Frage von neuem ins Rollen gebracht 
zu haben, um Österreich eine moralische Genugtuung zu verschaffen. 
Ob Rußland und Rumänien hierbei müßig Zusehen und Öster¬ 
reich freie Hand lassen würden, werden Ew. Exz. besser zu beur¬ 
teilen in der Lage sein als ich. Nach meinen hiesigen Eindrücken, 
namentlich aber nach den vertraulichen Unterhaltungen, die ich mit 
Sir Edward Grey gehabt habe, glaube ich, daß meine kürzlich in 
Berlin vertretenen Ansichten über die Absichten Rußlands uns gegen¬ 
über zutrafen. Sir Edward Grey versichert mir, daß man in Ru߬ 
land nicht daran denke, mit uns Krieg führen zu wollen. Ähn¬ 
liches sagt mir mein Vetter Graf Benckendorff. Eine gewisse anti- 
* deutsche Stimmung kehre dort von Zeit zu Zeit regelmäßig wieder, 
das hänge mit dem slawischen Empfinden zusammen. Dieser 
Strömung gegenüber bestehe aber immer eine starke prodeutsche 
Partei. Weder der Kaiser noch irgend eine der maßgebenden Person-
	        
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