Volltext: Deutschland und Europa

schaftliche Emporblühen während der von uns behandelten Jahre berührt. 
Ein Menschenalter steigenden Reichtums war über Deutschland herein¬ 
gebrochen. Das Bürgertum, das zu Anfang des Jahrhunderts ein beschei¬ 
denes, karg umrissenes Dasein geführt hatte, wuchs an Bedeutung und 
Wohlstand. Die Industrie schuf große Unternehmungen mit Heeren von 
Arbeitern. Der Kaufmann umspannte zum Absatz seiner Waren mit seinen 
Beziehungen fast die gesamte Erdkugel. Aber die ganze Entwicklung be¬ 
wegte sich nur in einer Richtung: nach außenhin, in die Breite und in 
die Weite. Sie war jung und irgendwie überstürzt, ohne Überlieferung und 
ohne geistige Tiefen. Das Volk der Dichter und Denker hatte seine Träume 
von einst vergessen, aber es verwechselte diese Träume von einst zugleich 
mit den echten Idealen von einst, die ebenfalls nichts mehr gelten sollten. 
Es hatte gewissermaßen die Wirklichkeit entdeckt und stürzte sich auf das 
neue Gebiet, indem es zugleich die alten Werte entschlossen beiseite 
schob. Erwerb, Vorwärtskommen, Fortschritt und Einfluß waren die 
Losungsworte, die überall anerkannt und mehr oder weniger offen ge¬ 
predigt wurden. Und daraus ergab sich zweierlei: Ein unbedenkliches, 
großsprecherisches und gelegentlich sogar unnötig herausforderndes Auf¬ 
treten gegenüber der Umwelt, in der man sich geltend machen wollte,, 
und zugleich eine ungeheure Verehrung für den berechnenden Verstand, 
der der sicherste Führer zum Erfolge schien. Der Verstand war der wahre 
Gott des Zeitalters. Er durfte die alten, ehrwürdigen Götter angreifen, zer¬ 
setzen und von ihren Thronen reißen, denn mit seiner Hilfe ging es auf 
dem neuen Weg in die Wirklichkeit glänzend aufwärts. Sein liebsteis 
Kind, die Technik, die die Eisenbahnen, die Dampfer, tausend Bequem¬ 
lichkeiten und tausend Möglichkeiten des Verdienstes schuf, ersetzte 
durch ihre greifbaren Wunder die kindlichen Wunder des Glaubens aus 
vergangener Zeit. Das sicherste Zeichen für das Wesen einer Epoche ist 
der Stil in der Kunst. Er spiegelt das wahre Gesicht einer Generation, 
weil er beweist, wie sie ihren inneren Gehalt zu formen und darzustellen 
vermag. Die Jahrzehnte, von denen wir hier sprechen, gebaren aber der 
Hauptsache nach nur einen platten und geschmacklosen Stil. In der Lite¬ 
ratur und der Malerei lösten sich die Schulen rasch in der Richtung auf 
Verherrlichung der Wirklichkeit ab. Auf den Realismus, der immer noch 
einen Schimmer von klassischer Erinnerung an sich trug, folgte der Mate¬ 
rialismus, dem es nur darum zu tun war, das „Leben, wie es ist“ getreulich 
nachzubilden. Die Naturwissenschaften wurden, als allein zuverlässig, weil 
sie auf greifbaren Feststellungen beruhten, eine Art von Religion. Die 
Bauwerke, soweit sie nicht die kahle und düstere Nüchternheit von Fabri¬ 
ken und Arbeitervierteln zur Schau trugen, zeigten einen flachen und zu¬ 
gleich sinnlos verschnörkelten Prunk. Schale Verehrung des Nützlichen 
und schwungloser Dienst am äußeren Wohlleben auch hier. Die unwäg¬ 
baren Kräfte des Herzens und der Phantasie waren verkümmert. Die ganze 
Blüte war üppig und bunt, aber sie war zugleich innerlich hohl. 
Natürlich griff die hier geschilderte Bewegung überall um sich, aber in 
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