Volltext: Deutschland und Europa

und seine Abgeschlossenheit von der Umwelt führten ihn allmählich zu 
einem Mißtrauen gegen seine Mitmenschen, das sich geradezu ins Krank¬ 
hafte steigerte. Darum verfiel er auch der Versuchung zur Intrige und 
kleinlichen Rachsucht, sodaß er bei Anhängern und Gegnern gefürchtet 
war. Holstein besaß zweifellos einen überlegenen Verstand. Aber dieser 
Verstand war nicht durch das Blut der Leidenschaft und des mächtig pul¬ 
sierenden Lebens genährt, sondern wucherte gewissermaßen für sich selbst, 
ein Verstand in Reinkultur, und darin lag die größte Gefahr, die die Eigen¬ 
art Holsteins bedeutete. Für ihn war die Politik nicht wie für Bismarck 
die Kunst des Möglichen, denn Kunst verlangt gefühlsmäßigen Instinkt, 
und die Erkenntnis des Möglichen eine reiche, im Wechselspiel des mensch¬ 
lichen Daseins errungene Erfahrung. Nein, für Holstein war Politik eine 
möglichst scharfe und alle Einzelheiten gegeneinander abwägende Berech¬ 
nung, eine kalte, fast wissenschaftliche Arbeit, für die es bestimmte Ge¬ 
setze und Grundsätze gab, an denen unter allen Umständen, festgehalten, 
werden mußte. Das Geheimnis seiner Überlegenheit über die übrigen deut¬ 
schen Diplomaten im Auswärtigen Amt bestand in seiner genauen Kenntnis 
der Akten und Vorgänge und in der Energie seiner reinen Denktätigkeit, 
kraft deren er die Gegenwart jeweils mit bestechender Schärfe zer¬ 
gliederte und kritisch abwog. Dabei sah er zwangsweise an den Dingen 
vorbei, weil er für die unwägbaren, mit dem Verstände nicht zu fassenden 
Kräfte, die im politischen Leben eine ebenso große Rolle spielen, wie im 
gewöhnlichen!, einfach keine Organe besaß. Auch er war gewiß ein 
überzeugter Patriot und ein Mann, der der gewaltigen Aufgabe, die er 
zum großen Teil selbst an sich gerissen hatte, restlos ergeben war. Aber es 
ist ganz klar, daß das noch nicht genügte, um den ungeheuren Schwierig¬ 
keiten einer Behauptung und Verteidigung der deutschen Stellung gewach¬ 
sen zu sein. Ganz abgesehen davon, daß bei Holstein das persönliche 
Machtbedürfnis sehr oft die sachliche Beurteilung trübte, war seine welt¬ 
fremde und blutlos spekulative Art, sich mit den Ereignissen abzufinden, 
ein Verhängnis für die Leitung der deutschen Außenpolitik. 
Heute wirft man mit Recht die Frage auf: Wie war es möglich, daßj 
man das leicht zerbrechliche Glas der jungen deutschen Macht, das Bis¬ 
marck mit einem ganzen Wall von Schutzwänden umgeben hatte, voll 
Vertrauen solchen Händen überließ und nicht beizeiten, vor allem nach den 
ersten Mißgriffen Vorkehrungen traf, um Wandel zu schaffen? Man wird 
als Antwort nicht bloß den politischen Unverstand und die Sorglosigkeit 
des deutschen Volkes anführen können; denn die großen Massen sehen 
von den wirklichen Geschehnissen nur den blassen und späten Widerschein 
in der Presse. Aber auch die Kenner, die hinter die Kulissen sahen,, 
schüttelten höchstens gelegentlich den Kopf, ohne wirkungsvollen Protest 
zu erheben. Und die leitenden Staatsmänner fügten sich dem System Hol¬ 
steins ein. 
Die Erklärung liegt tiefer. Sie erwächst uns allein aus einem Blick auf 
die Natur der ganzen Zeitepoche. Wir haben bereits das kräftige wirt¬ 
37
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.