Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Vierter Band. (4 ; 1921)

666 Woodrow Wilson, der Frieden und der Völkerbund 
Kongreß der Vereinigten Staaten erklärt hatte, „nur ein Frieden unter 
Gleichen könneDauer haben", und mit dem Präsidenten, der am 11. Februar 
1918 vor dem Kongreß gesagt hatte, „das Selbstbestimmungsrecht ist ein ge¬ 
bieterischer Grundsatz des Handelns, den die Staatsmänner nur auf eigene 
Gefahr mißachten dürfen", nichts mehr zu schaffen. Als er sich zur Europa- 
reise entschloß, war ihm das Gefühl für die richtige Entfernung von Dingen 
und Menschen abhanden gekommen. Er büßte dies nach seiner Rückkehr mit 
dem Verlust seiner Machtstellung und der Minderung seiner moralischen 
Persönlichkest. Er war weder der sarkastischen Schärfe Clömenceaus, noch 
der geistigen Beweglichkeit Lloyd Georges gewachsen gewesen, und erlag an 
der Seine im Kreise kluger Diplomaten und schöner Frauen „Europens über» 
tünchter Löslichkeit". 
Wilson fand im eigenen Lager die schärfste Kritik. Robert Lansing, der 
ihm während des Krieges die Feder zu seinem Notenwechsel mit den deutschen 
Regierungen gespitzt hatte, urteilt über Wilsons Doktrin und die Verleugnung, 
die der Präsident ihr selbst in Paris zuteil werden ließ, in seinen Memoiren: 
„Wilson erweckte den alten Begriff der Zustimmung der Regierten zu 
neuem Leben, vergaß aber ganz, daß die Geschichte erwiesen hat, wie wert¬ 
los diese Theorie als Richtlinie für die moderne politische Praxis ist. Er 
gab dieser alten Theorie den Namen „Selbstbestimmung" und erhob sie zu 
einem gebieterischen Aktionsprinzip. Er machte aus der Selbstbestimmung 
eine Basis des Friedens. Trotzdem hat Wilson in seiner Praxis während 
der Pariser Verhandlungen und bei der Formulierung der amerikanischen 
auswärtigen Politik dieses Selbstbestimmungsrecht gänzlich außer Acht 
gelaffen, wenn er es vielleicht auch als ein wünschenswertes moralisches 
Rezept gelten ließ, das im Leben der Völker kaum je eine Erfüllung fand ... 
Schlagende Beispiele für die Verleugnung dieses Prinzips finden sich im 
Versailler Vertrag, wo durch die Neuregelung der deutschen Grenze 
Millionen von Menschen deutschen Blutes unter die Oberhoheit der neu¬ 
geschaffenen Staaten Polen und Tschecho-Slowakei gestellt, wo der Lasen 
von Kiautschou und die wirtschaftliche Vorherrschaft in der Provinz 
Schantung an Japan übertragen wurden. Im Frieden von St. Germain 
wurde das österreichische Tirol an Italien gegen den allgemein bekannten 
Willen fast der gesamten Bevölkerung dieses Gebietes abgetreten. In den 
. Friedensverträgen von Versailles und St. Germain wurde Österreich das 
Recht genommen, sich Polstisch mst Deutschland zusammenzuschließen. Als 
der Oberste Rat gegen den betreffenden Anschlußartikel der deutsche« 
Verfassung vom August 1919 protestierte, weil er im Widerspruch zu dem 
Friedensvertrag mst Deutschland stehe, wurde am 22. September 1919 
von den Bevollmächtigten Deutschlands und der fünf alliierten und assozi¬ 
ierten Großmächte ein Protokoll unterzeichnet, welches diesen Artikel 
in der deutschen Verfassung für null und nichtig erklärte. Eine klarer«
	        
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