Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Vierter Band. (4 ; 1921)

Irrungen, Wirrungen 
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die Ostfront von einer Krise geschüttelt, die von Riga bis Kirlibaba aus- 
strahlt. Durchbricht Brussilow die Stochodlinie an der Bahn Sarny— 
Kowel, so ist Kowel verloren, Linsingens Lauptmacht bei Swidniki an der 
Bahn Luzk—Kowel und weiter südwärts von Umfassung bedroht und ge¬ 
zwungen nach Südwesten auszuweichen und dem Feind die Bahn Kowel— 
Brest-Litowsk zu überlassen. Konzentrischer Rückzug Linsingens, Boehm- 
Ermollis und Bothmers auf Lemberg wäre die Folge. Was hülfe Woyrsch 
dann noch sein Leldenkampf um den Besitz Baranowitschis! 
Weiß der Limmel, Lindenburg hatte Recht, als er im verschlossenen 
Zelt schweren Sorgen Raum gab. Die Gesamtlage war ernster als je. 
Mochte die Oberste deutsche Leeresleitung sie scheinbar auch noch spielend 
beherrschen, so war dieses bewunderungswerte Ballspiel, in den» Falken- 
Hayn ungezählte Bälle warf, fing und wieder warf und wieder fing, doch 
nur ein System von Aushilfen, das ein einzelner Fehlgriff zerstören und 
in Nichts verwandeln konnte. 
Blickte Kaiser Wilhelm mit ungetrübtem Auge auf die Kriegskarte, 
so erkannte er, daß die deutschen Streitkräfte in schwerste Kämpfe verwickelt 
lagen und nicht mehr übersichtlich gegliedert waren. Deutsche Fähnlein 
überall, im Westen dichtgereiht, im Osten lockergesteckt, hier unter sich zu 
Massen geballt, dort zwischen schwarzgelben zerstreut. Von einer straffen 
Befehlsorganisation war wenig mehr zu spüren. Im Westen standen fünf 
Armeen und drei Armeeabteilungen, die sich zwar gegenseitig aushalfen, in 
schweren Krisen aber nicht einheitlich bewegt werden konnten. Im Osten 
war die Front nicht nur mehrfach geteilt, sondern auch in Befehlsbereiche 
gespalten, die von verschiedenen Generalstäben abhingen. Der Amweg über 
Pleß engte Lindenburgs und Leopolds Wirken ein, und die Unabhängigkeit 
von Teschen band Linsingen und Bothmer die Lände. Kamen dazu noch 
Unstimmigkeiten zwischen Pleß und Teschen, so geriet vieles nicht nach 
Wunsch, kam manches zu spät zur Ausführung. In dieser unsicheren Lage, 
in diesem Wirbel der Geschehnisse stand der Mann im Graben unbewegt, 
wurde der deutsche Soldat zum Träger des Geschicks. Jeder einzelne trug 
im Kampfe des Vaterlandes Last. 
Während Falkenhayn und Conrad der Sorgen und Wirrungen Lerr 
zu werden suchten, die der Wandel der strategischen Lage mit sich gebracht 
hatte, gingen die Schlachten im Osten und Westen ihren blutigen Gang. Als 
gar Cadorna noch mit Macht angriff und nach Wiederherstellung der Sicher- 
heit in der Südtiroler Flanke Görz zum fünftenmal bekannte, begann 
das strategische Gebäude, das die Mittelmächte in zwei kampferfüllten Jahren 
aus Feindesboden errichtet hatten, in seinen Grundfesten zu erzittern. Und 
da dieses Gebäude so beschaffen war, daß keine Front, kein Frontabschnitt 
einstürzen durfte, ohne den ganzen kunstvollen Rundbau zu Fall zu bringen, 
sah sich Deutschland in den letzten Iulitagen des Jahres 1916 hart an den 
Stegemanns Geschichte des Krieges IV 7
	        
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