Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Dritter Band. (3 ; 1919)

Deutschlands und Englands strategische Lage zur See 9 
Die zahlenmäßige Überlegenheit der britischen Flotte hätte freilich 
nicht genügt, den Plan durchzuführen. Das strategische Mißverhältnis 
zwischen den beiden Äauptgegnern wurde nicht so sehr durch die Zahl als 
vielmehr durch geographische Bedingungen bestimmt. Die englische Flotte 
verfügte über alle Läsen und Flußmündungen Englands als Ausfallsstellungen 
und erfreute sich voller strategischer Freiheit und Bewegungsfähigkeit, 
die deutsche dagegen lag im Nordseewinkel zwischen Jütland und Friesland 
eingeklemmt und war wohl fähig, wie ein Kettenhund aus ihrem Schlupf¬ 
winkel herauszufahren und die Deutsche Bucht vom Feinde freizuhalten, 
aber nicht imstande, gegen die breit vorgespannte britische Grundstellung 
anzugehen, ohne ihre einzige Rückzugslinie zu gefährden. 
Auch wenn die deutsche Flotte beträchtlich stärker, selbst wenn sie der 
britischen Flotte nahezu ebenbürtig gewesen wäre, hätte sie sich diesem geo¬ 
graphischen Zwangsverhältnis nicht entwinden können. Die deutsche See¬ 
macht bildete also, im Zusammenhang der Kriegserscheinung betrachtet, 
von Anfang an und bis zum Ende des Krieges nichts anderes als eine 
starke Verteidigungsflanke. Nur die deutschen Leere, nicht die Flotte waren 
fähig, die Entscheidung im Sinne Friedrichs des Großen zu suchen, der 
lange vor der Erörterung der „attaque brusquée” als erster die Ansicht 
vertreten hatte, daß Preußens Kriege „kurz und vif" sein müßten, da ein 
langwieriger Krieg die vortreffliche preußische Mannszucht zerstöre, das 
Land entvölkere und seine Lilfsquellen erschöpfe. 
Zwischen den beiden Flotten bestanden tiefgehende Anterschiede. Die 
britische Flotte schwamm im stolzen Gefühle einer von der Geschichte zweier 
Jahrhunderte bekräftigten Überlegenheit auf der weiten See, die deutsche 
trat als eine neue Schöpfung zum Daseinskampf an. Jene war das natürliche 
Instrument einer weise, kraftvoll und rücksichtslos geführten Weltpolitik und 
als Waffe seemännisch veranlagt, diese war der maritime Ausdruck der mili- 
tärischen Macht und als solche gegründet, um Deutschland gewissermaßen in 
die Weltpolitik einzuführen und die Weltgeltung Deutschlands sinnfällig zu 
verkörpern, also nicht organisch gewachsen, sondern zweckbewußt organisiert. 
Als der Krieg ausbrach, besaß Deutschland 30 Linienschiffe, 14 Panzer- 
kreuzet, 35 kleine Kreuzer, 100 Torpedoboote und 28 Tauchboote, von 
denen 20 Linienschiffe, 5 Panzerkreuzer, 25 leichte Kreuzer, 84 Torpedoboote 
und 12 Tauchboote modernen Anforderungen entsprachen. Die deutsche 
Seerüstung hatte England schon im Jahre 1901 beunruhigt und zu größeren 
Rüstungen veranlaßt, war aber trotz aller Anstrengungen Wilhelms II. noch 
nicht weit genug gediehen, England von einem Kriege abzuschrecken, wenn der 
politische Augenblick zur endgültigen Auseinandersetzung rief. Die Flotten¬ 
politik Wilhelms II. und seines Beraters, des Admirals v. Tirpitz, war auf 
der Erwägung ausgebaut, die deutsche Seemacht könne so stark gemacht 
werden, daß England das Wagnis eines Krieges scheuen werde, da es einen
	        
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